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LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.11.2006 - L 20 B 248/06 AS ER - asyl.net: M9595
https://www.asyl.net/rsdb/M9595
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Erwerbsunfähige, Sozialhilfe, Unionsbürger, Beitrittsstaaten, Polen, Arbeitssuche, Aufenthaltszweck, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Freizügigkeitsbescheinigung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: SGB XII § 23 Abs. 1 S. 1; SGB XII § 21; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2; RL 2004/38/EG Art. 14 Abs. 4; EG Art. 12; EG Art. 18; SGG § 86b Abs. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

Die Beschwerde der Antragsteller ist zulässig und im Sinne einer Verpflichtung der Beigeladenen zur Leistungserbringung begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Erforderlich ist insoweit die Glaubhaftmachung des geltend gemachten materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie der besonderen Eilbedürftigkeit für die gerichtliche Entscheidung (Anordnungsgrund).

Nach der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung haben die Antragsteller einen Anspruch gegen die Beigeladene aus § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII. Danach ist Ausländern, die sich - wie die Antragsteller - im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten.

Dieser Anspruch ist auch nicht etwa nach § 21 S. 1 SGB XII ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt (mit bestimmten, hier von vornherein nicht einschlägigen Ausnahmen).

Der Beigeladenen ist insoweit zuzugeben, dass nach der bis zum 31.03.2006 geltenden Rechtslage für Ausländer wie die Antragsteller ein Leistungsanspruch nach dem SGB II bestanden hat und damit zugleich nach § 21 S. 1 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen waren.

Zwar war und ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Staatsangehörige der neuen EU-Mitgliedsstaaten - und damit auch für die aus Polen stammende Antragstellerin zu 1) - nach dem Vertrag vom 16.04.2003 über den Beitritt der osteuropäischen Staaten, Zypern und Malta (BGBl. II, S. 1408) eingeschränkt. Allerdings können sie sich gleichwohl nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU wegen gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung in Deutschland aufhalten. Da für die Antragsteller eine andere Alternative der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitberechtigung im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht ersichtlich ist, ist davon auszugehen, dass sich die Antragstellerin zu 1) zur Arbeitssuche in Deutschland aufhält. Jedenfalls ist von einem solchen Aufenthaltsrecht wegen Arbeitssuche für die Antragstellerin zu 1) einstweilen auszugehen und infolge dessen auch von einem Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 2) als ihrem Sohn (vgl. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU: "Familienangehörige"). Denn die Beigeladene hat für beide Antragsteller die nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU auszustellende Freizügigkeitsbescheinigung, die das Aufenthaltsrecht des jeweiligen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers bescheinigt, ausgestellt. An diese Freizügigkeitsbescheinigungen sieht sich der Senat jedenfalls bei summarischer Prüfung für die Zwecke des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten der Antragsteller gebunden.

Mit der Neuregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB II vom 24.03.2006 (BGBl. I, S. 558) wurden allerdings Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Ausnahmeregelung reagiert auf die gemeinschaftsrechtliche Ausformung der Freizügigkeit und schöpft die dort vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten für den Zugang zu sozialen Leistungen für Personen aus, denen die Arbeitnehmerfreizügigkeit Einreise und Aufenthalt zur Arbeitssuche gestattet (vgl. die Ausführungen zur EU-Freizügigkeitsrichtlinie in BR-Drs. 550/05; Berlit, in: info also 2006, S. 57). In der ergänzenden Gesetzesbegründung des Bundestagausschusses für Arbeit und Soziales (BT-Drs. 16 (11) 80, S. 3) kommt die Absicht eines Leistungsausschlusses für bestimmte Gruppen von Ausländern durch die Neufassung des § 7 Abs. 1 SGB II deutlich zum Ausdruck; Leistungen nach dem SGB II sollen danach für arbeitssuchende Ausländer auch dann ausgeschlossen sein, wenn sie die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des SGB II (Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland) erfüllen. Nach Auffassung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales (a.a.O.) sollen darüber hinaus auch Leistungen nach dem SGB XII wegen § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Betracht kommen, da der betroffene Personenkreis dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II bleibe.

Nach Ansicht des Senats (vgl. hierzu bereits Beschluss vom 04.09.2006, L 20 B 73/06 SO ER) ergibt sich allerdings für Unionsbürger, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, aber wegen § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II n.F. keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, bei summarischer Prüfung und Auslegung im Lichte der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen trotz der in den Gesetzesmaterialien festgehaltenen, gegenteiligen Ansicht des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen aus § 23 SGB XII. Denn das Regelungsgefüge aus § 21 Abs. 1 SGB XII und § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass für solche Unionsbürger ein Leistungsanspruch nach dem SGB II "dem Grunde nach" gerade nicht besteht und damit der Leistungsausschluss des § 21 Abs. 1 SGB XII nicht greift.

Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Abweichend von der EU-Freizügigkeitsrichtlinie gewährt das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland in Form des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitberechtigung nach § 2 Nr. 1 FreizügG/EU ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bei Arbeitssuche; dabei verzichtet es auf die Voraussetzung einer begründeten Erfolgsaussicht der Arbeitssuche (vgl. Strick, in: NJW 2005, S. 2184).

Art. 12 S. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 07.12.1992 (EGV) verbietet (unbeschadet besonderer Bestimmungen des EGV) im Anwendungsbereich des Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Zugleich ist die Freizügigkeit durch Art. 18 EGV für jeden Unionsbürger i.S. des Art. 17 EGV grundsätzlich gewährleistet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 07.09.2004 - C-456/02 (Trojani) insoweit ausgeführt, Art. 18 Abs. 1 EGV erkenne jedem Unionsbürger das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten unmittelbar zu. Zwar gelte dieses Recht nicht absolut, sondern bestehe nur vorbehaltlich der im EGV und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bestimmungen. So könnten die Mitgliedsstaaten nach Art. 1 der Richtlinie 90/364 von Angehörigen eines (anderen) Mitgliedsstaats, die das Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet wahrnehmen wollten, verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine ausreichende Krankenversicherung sowie über genügende Existenzmittel verfügten, durch die sicher gestellt sei, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten (EuGH a.a.O., Nr. 31 - 33). Derartige Beschränkungen und Bedingungen seien unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden (Nr. 34). Bei einem Mangel an Mitteln, die eigene Existenz zu sichern, erwachse deshalb aus Art. 18 EGV (grundsätzlich) kein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines (anderen) Mitgliedsstaats (Nr. 36). Halte sich allerdings der Betreffende (was im vom EuGH entschiedenen Fall durch eine amtliche Aufenthaltserlaubnis bescheinigt worden war) rechtmäßig in dem Mitgliedsstaat auf, so sei Art. 12 EGV zu beachten, wonach unbeschadet besonderer Bestimmungen des EGV im Anwendungsbereich des Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten sei (Nr. 39 i.V.m. Nr. 37). Insoweit dürften Mitgliedsstaaten den Aufenthalt eines nicht wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers zwar von der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel abhängig machen; daraus ergebe sich jedoch keineswegs, dass einer solchen Person während ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung aus Art. 12 EGV nicht zugute komme (Nr. 40). Insofern sei zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des EuGH eine Leistung der Sozialhilfe in den Anwendungsbereich des EGV falle (Nr. 42; vgl. auch Urteil des EuGH vom 20.09.2001 - C-184/99 - Grzelczyk, dort insbesondere Nr. 46). Ein nicht wirtschaftlich aktiver Unionsbürger könne sich auf Art. 12 EGV berufen, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Dauer rechtmäßig aufhalte oder eine Aufenthaltserlaubnis besitze (Nr. 43). Eine nationale Regelung bedeute eine nach Art. 12 EGV verbotene Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit, wenn sie Unionsbürgern, die sich in dem Mitgliedsstaat rechtmäßig aufhielten, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen, die Leistungen von Sozialhilfe auch dann nicht gewähre, wenn sie die Voraussetzungen erfüllten, die für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaates gälten (Nr. 44).

In Anwendung dieser Grundsätzen erlangen nach der Rechtsprechung des EuGH mithin auch nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht nur ein Bleiberecht, sondern auch Teilhabeansprüche hinsichtlich der staatlichen Sozialleistungssysteme. Die vom EuGH genannten Vertragsartikel wirken sich sekundär in der Form aus, dass sie - im Sinne des Prinzips der Inländergleichbehandlung - vor Benachteiligung der Unionsbürger gegenüber Inländern des Aufnahmemitgliedstaates schützen (kritisch zu dieser Rechtsprechung Wollenschläger, in: EuZw 2005, S. 309 f.). Wenn der EuGH Schranken dabei für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen eines Mitgliedsstaates in einer unangemessenen, nicht näher bestimmten Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sieht, trägt dem das deutsche nationale Recht durch § 23 Abs. 3 SGB XII Rechnung; danach können Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden, falls die Einreise in der Absicht erfolgt ist, Sozialhilfe zu erlangen.

Die Beigeladene ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass nach dem genannten Urteil des EuGH (dort Nr. 45) dem Aufnahmemitgliedstaat die Feststellung unbenommen bleibt, ob ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates, der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, die Voraussetzungen für sein Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt. Der Aufnahmemitgliedstaat kann in einem solchen Fall unter Einhaltung der vom Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen eine Ausweisung vornehmen. Die Inanspruchnahme des Sozialhilfesystems durch einen Unionsbürger allein darf allerdings nicht automatisch eine solche Maßnahme zur Folge haben (Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 20.09.2001 - C-184/99 - Grzelczyk, dort Nr. 42 f.).