OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.10.2006 - 13 A 2820/04.A - asyl.net: M9602
https://www.asyl.net/rsdb/M9602
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Albaner, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Suizidgefahr, Beweiswürdigung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat der Verpflichtungsklage der Klägerin auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der ab 1. Januar 2005 an die Stelle des früher geltenden § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG getreten ist und dessen Voraussetzungen nach denselben Kriterien wie denjenigen zu der letztgenannten Bestimmung zu beurteilen sind.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin bei Rückkehr in ihre Heimat Kosovo auf Grund der dort vorhandenen Verhältnisse wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtern wird, besteht nach Ansicht des Senats nicht.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Der Verfahrensgrundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet, dass das Gesetz dem Richter grundsätzlich - vorbehaltlich hier nicht einschlägiger ausdrücklicher Regelungen wie etwa § 98 VwGO i. V. m. §§ 415 - 419 ZPO - keine festen Regeln für seine Überzeugungsgewinnung bzw. Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorschreibt. Sinn und Zweck der freien richterlichen Beweiswürdigung ist es gerade, das Gericht nicht an starre Regeln zu binden, sondern ihm zu ermöglichen, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Dazu gehört die Zugrundelegung des richtigen und vollständigen Sachverhalts, Umstände, deren Entscheidungserheblichkeit sich dem Gericht aufdrängt, nicht zu übergehen und bei der Würdigung die Grenzen einer objektiven willkürfreien, die Natur- und Denkgesetze sowie die allgemeinen Erfahrungssätze beachtenden Wertung nicht zu überschreiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, NVwZ 2005, 1087; OVG NRW, Beschluss vom 26. April 2006 - 8 A 4323/03.A -, AuAS 2006, 165).

Vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst ist, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend gemacht werden, auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste und Stellungnahmen und die Überprüfung darin getroffener Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit - eine besondere medizinische Sachkunde ist insoweit regelmäßig nicht zwingend erforderlich. Die Würdigung ärztlicher Atteste und Stellungnahmen, insbesondere zum Vorliegen psychischer Erkrankungen von Asylbewerbern, ist deshalb eine gerade in Asylverfahren sich ständig wiederholende Aufgabe (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 118.01 -, DVBl. 2002, 53; OVG NRW, Beschlüsse vom 26. April 2006 - 8 A 4323/03.A -, a. a. O., vom 7. Februar 2006 - 15 A 330/06.A - und vom 5. Januar 2005 - 21 A 3093/04.A -, NVwZ-RR 2005, 358).

Der Klägerin droht im Falle der Rückkehr in den Kosovo aber auch nicht wegen der von ihr geltend gemachten Erkrankung eine erhebliche konkrete Gefahr.

Nach dem psychiatrischen Gutachten kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei der Klägerin eine Posttraumatische Belastungsstörung besteht; von einem solchen Krankheitsbild ist auch das Verwaltungsgericht nicht ausgegangen.

Der Sachverständige hat bei der Klägerin eine depressive Störung mit einer mittelgradigen depressiven Episode und differentialdiagnostisch eine Anpassungsstörung mit emotionaler Symptomatik diagnostiziert; außerdem seien traumaassoziierte Symptome vorhanden, die mit den Erlebnissen der Klägerin bei der Flucht zusammenhängen.

Eine die Annahme eines Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigende Verschlimmerung der psychischen Erkrankung der Klägerin ist bei deren zwangsweiser Rückführung in den Kosovo nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Nach dem Gutachten des Dr. N. konnte seinerzeit die Frage einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin - in Abhängigkeit von einer ausreichenden Behandlung - nicht beantwortet werden; der natürliche Verlauf der Störung sei nur schwer vorauszusagen. Schon diese Formulierung legt unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Klägerin bisher in Deutschland ambulant (nicht aber stationär) und medikamentös behandelt wurde, nahe, dass eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands nach Rückkehr in den Kosovo nicht zu befürchten ist. Nach den Erkenntnissen des Senats ist die psychische Erkrankung der Klägerin zudem im Kosovo ausreichend behandelbar. Nach den jüngsten Erkenntnismaterialien (vgl. Auswärtiges Amt: Lagebericht "Kosovo" vom 29. Juni 2006; Dt. Verbindungsbüro Kosovo Pristina an VG Düsseldorf vom 21. Juli 2006) stehen im öffentlichen Gesundheitswesen im Kosovo sieben Zentren für geistige Gesundheit und in fünf Krankenhäusern Abteilungen für stationäre Psychiatrie inklusive angeschlossener Ambulanzen zur Behandlung von psychischen Erkrankungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen zur Verfügung. In Prizren, dem Heimatort der Klägerin, ist danach in dem dortigen Krankenhaus eine stationäre psychiatrische Abteilung mit angeschlossener Ambulanz sowie ein Zentrum für geistige Gesundheit (Mental Health Care Centre - MHC -) sowie ein "One to One" Psychosocial Centre vorhanden. In den Zentren für geistige Gesundheit (MHC) finden nach Auskunft der Leiterin des Zentrums Pristina u. a. auch "supportive Gespräche" statt. Die Behandlung sowie die Therapie in den Mental Health Centres ist kostenfrei. Dass die genannten Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo der Klägerin nicht zur Verfügung stehen könnten, ist nicht erkennbar und wird auch von ihr nicht geltend gemacht.

Der Senat ist auch nicht der Überzeugung, dass bei der Klägerin bei Rückkehr in den Kosovo im Hinblick auf eine Suizidgefahr eine beachtliche wahrscheinliche Gesundheitsverschlechterung von besonderer Intensität anzunehmen ist.

Soweit diesbezüglich im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 -, der sich auf einen Beschluss des Senats bezieht, die Rede ist von der Sachkunde des Berufungsgerichts, beurteilen zu können, ob für die Klägerin im Abschiebezielstaat ... "eine ernste Suizidgefahr voraussichtlich ... ausgeschlossen werden kann", sieht der Senat darin keine Aufgabe des für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevanten Maßstabs der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" für eine Gesundheitsverschlechterung. Denn "ausgeschlossen" werden kann ein Suizid, die intensivste Form der Gesundheitsverschlechterung, von keinem Therapeuten oder Gutachter, wie auf Fachtagungen von fachkundiger Seite erklärt worden ist. Zudem wird der in Deutschland regelmäßig nicht ernsthaft zum Suizid bereite Ausländer, wie ebenfalls fachkundig vertreten worden ist, ernsthafte Suizidgedanken allenfalls in einer besonderen, ausweglosen Situation im Heimatland entwickeln, was aber von einem objektiv und spekulationsfrei wertenden Fachmann mit für eine richterliche Tatsachenfeststellung notwendiger Sicherheit regelmäßig nicht vorausgesagt werden kann (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. September 2006 - 13 A 1740/05.A -).