VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 24.10.2006 - 2 K 3222/06.A - asyl.net: M9608
https://www.asyl.net/rsdb/M9608
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, häusliche Gewalt, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, sexuelle Übergriffe, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Glaubwürdigkeit, illegale Ausreise, Flughafen, häusliche Gewalt, falsche Anschuldigung, Misshandlungen, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, soziale Gruppe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. November 2004 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Sie hat im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) einen Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen.

Das Gericht legt hierbei die Ereignisse bis zur Ausreise zu Grunde, welche die Klägerin beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll, umfänglich und derart detailliert dargelegt hat, wie es das Gericht zuvor selten erlebt hat. Insgesamt bietet sich ein absolut stimmiges, in sich schlüssiges Bild, das durch eine Reihe von Glaubhaftigkeitskriterien zusätzliches Gewicht erhält.

Schließlich spricht auch die von ihr behauptete - allerdings in keiner Weise belegte - Ausreise über den Teheraner Flughafen Mehrabad nicht gegen den Wahrheitsgehalt ihres Vorbringens im übrigen, da dem Gericht mittlerweile eine Reihe von Fällen illegaler Ausreise über diesen Flughafen bekannt sind und selbst das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht zum Iran (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran vom 21. September 2006 - 508-516.80/3 IRN -, S. 41) einräumt, dass eine Ausreise mit gefälschten Papieren zwar angesichts der bestehenden Kontrolldichte äußerst schwierig, je nach Qualität der Fälschung in Einzelfällen jedoch möglich ist.

Ist nach alledem von der Wahrheit des von der Klägerin geschilderten Geschehens auszugehen, droht ihr im Falle einer Rückkehr in den Iran mit hinreichender Wahrscheinlichkeit körperliche Gewalt in Form von Schlägen, Tritten, Stockhieben oder Schlimmerem bis hin zur Herbeiführung ihres Todes durch den Stiefbruder S. und/oder durch den weiteren Stiefbruder bzw. den Stiefvater, gegebenenfalls zuvor eine nicht gerechtfertigte Haftstrafe, wobei dann körperliche Gewalt durch die Stieffamilie nach ihrer Entlassung aus der Haft hinreichend wahrscheinlich ist. Die Klägerin ist nämlich unmittelbar im Anschluss an den gegen sie geführten Diebstahlsprozess inhaftiert worden und nur gegen Kaution freigekommen. Danach ist sie untergetaucht und einer Vorladung in dieser Angelegenheit nicht nachgekommen, sodass man sie sucht und im Falle einer Einreise in den Iran festnehmen wird. Bei der zu erwartenden Wiederaufnahme des Prozesses wird es erneut Kontakt zwischen ihr und ihren Stiefbrüdern und ihrem Stiefvater geben, die als vermeintlich Geschädigte ihre Aussage im Prozess machen werden. Wird der Richter dem Vorbringen der Klägerin folgen und sie vom Vorwurf des Diebstahls und der falschen Anschuldigung freisprechen, müsste sie anschließend mit massiver Gewaltanwendung seitens des Stiefbruders S. und des weiteren Stiefbruders bzw. des Stiefvaters rechnen, wie dies bereits vorher nach einem Prozess noch auf der Straße geschehen ist. Diese drei Personen haben die Klägerin schon vor ihrer Ausreise misshandelt, um sie gefügig zu machen und von ihren Vorwürfen gegen S. abzubringen. Dieses Motiv wird nach einer Rückkehr der Klägerin in den Iran erneut zum Tragen kommen, ggfs. in Verbindung mit Rachegelüsten, weil die Stiefbrüder und der Stiefvater immer damit rechnen müssten, von der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs und Anwendung von Gewalt zur Rechenschaft gezogen zu werden. Folgt der Richter der Darstellung der Klägerin nicht, so muss sie - obwohl sie unschuldig ist - mit einer Haftstrafe wegen Diebstahls und falscher Anschuldigung rechnen. Nach ihrer Freilassung wäre sie aus den vorgenannten Gründen aber erneut körperlichen Misshandlungen durch die Stieffamilie ausgesetzt.

Bei der hiernach der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohenden, von ihrem Stiefbruder S. und/oder dem weiteren Stiefbruder bzw. dem Stiefvater ausgehenden körperlichen Gewalt handelt es sich um politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Dem steht nicht entgegen, dass die drohende Gewalt nicht von Einrichtungen des iranischen Staates, sondern von Angehörigen der eigenen (Stief-)Familie, mithin von Privatpersonen ausgeht. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Darunter fallen nicht nur Organisationen oder Gruppen, sondern auch Einzelpersonen (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A -, NVwZ-RR 2006, 504-507; VG Stuttgart, Urteil vom 23. Januar 2006 - A 11 K 13008/04 -, AuAS 2006, 135 - 137).

Der iranische Staat ist desweiteren - jedenfalls im vorliegenden Einzelfall - erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens, Schutz vor der Verfolgung durch diese Einzelpersonen zu bieten (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG). Die Klägerin hat überzeugend vorgetragen, wie sie sich wegen der gegen sie gerichteten Gewalt immer wieder mit einer ganzen Serie von Anzeigen an die iranischen Strafverfolgungsbehörden gewandt und um Hilfe gebeten hat, ohne damit weitere Gewalttaten gegen sie verhindern zu können. Genützt hat ihr das alles nichts. Im Gegenteil hat der Richter ihre Bitte, ihr die Möglichkeit zu geben, nicht wieder im Haus des Stiefvaters übernachten zu müssen, abgelehnt und ihr gesagt, sie könne schlafen, wo sie wolle. Letztlich ist es trotz all dieser Bemühungen um staatlichen Schutz immer wieder zu weiteren Gewalttaten der Stieffamilie gegenüber der Klägerin gekommen. Es ist nicht erkennbar, welche weiteren Wege, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen, die Klägerin hätte beschreiten sollen. Die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen ist auch deshalb hinreichend wahrscheinlich, weil sie der Auskunftslage entspricht. Nach Einschätzung etwa des Auswärtigen Amtes können Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird (vgl. Lagebericht vom 21. September 2006, a.a.O., S. 29).

Besonders dann, wenn - wie hier vorgetragen - die Verteidigungsstrategie der Gewalttäter darin besteht, die Glaubwürdigkeit der Frau durch Hinweis auf eine unerlaubte Beziehung zu einem Mann zu erschüttern, ist staatlicher bzw. gerichtlicher Schutz nur schwer zu erlangen.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative, welche eine politische Verfolgung durch Einzelpersonen gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausschlösse, besteht für die Klägerin nicht. Insbesondere hat sie nicht die Möglichkeit, sich durch eine Wohnsitznahme in einem anderen Ortsteil der Millionenstadt Teheran oder anderswo im Iran dem Zugriff der Stieffamilie zu entziehen. Wie bereits ausgeführt, würde das Diebstahlsverfahren bei ihrer Rückkehr wieder aufleben. Hierdurch käme es erneut zum Kontakt mit dem durch den vermeintlichen Diebstahl geschädigten Stiefvater und den Stiefbrüdern; sie würden dort als Zeugen geladen und hätten die Möglichkeit, die Klägerin nach dem Prozess zu misshandeln.

Die Verfolgung knüpft ferner an das asylerhebliche Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Hierzu zählt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auch eine Verfolgung, die allein an das Geschlecht anknüpft.

So liegt der Fall hier.

Ausgangspunkt der gegen die Klägerin gerichteten Gewalt ist deren Vergewaltigung und Missbrauch im Kindesalter. Um dies zu vertuschen und zu verhindern, dass die Klägerin erfolgreich durch Anrufung der Behörden hiergegen vorgeht, wurde sie von ihrem Stiefbruder S. - dem Vergewaltiger - sowie dem anderen Stiefbruder sowie dem Stiefvater zusammengeschlagen und -getreten in der Absicht, sie der Stieffamilie und deren Willen gefügig zu machen. Stellt damit die Gewaltanwendung eine Folge der Vergewaltigung dar, knüpft sie an das Geschlecht an, da eine Vergewaltigung typischerweise Frauen widerfährt und vorliegend ausgeschlossen werden kann, dass die Klägerin von ihrem Stiefbruder vergewaltigt worden wäre, wenn sie männlichen Geschlechts gewesen wäre.