VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 11.12.2006 - 24 B 06.2158 - asyl.net: M9619
https://www.asyl.net/rsdb/M9619
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Verschulden, Zumutbarkeit, Beweislast, Auslandsvertretung, Klage, Rechtsmittel, Ausländerbehörde, Hinweispflicht, Pakistan, Pakistaner, illegale Einreise
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 82 Abs. 1; AufenthG § 48 Abs. 3
Auszüge:

Die Berufung ist begründet.

1. Der Anspruch des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels findet seine Grundlage in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.

3. Der Erteilung der Erlaubnis steht auch die Vorgabe des § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG nicht entgegen. Eine Aufenthaltserlaubnis darf danach nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein solches Verschulden liegt nach § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG dann vor, wenn der Ausländer u.a. zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt.

Hiervon kann im Fall des Klägers nicht ausgegangen werden. Er hat alle zumutbaren Anforderungen, die zur Beseitigung des bestehenden Ausreisehindernisses (Fehlen von Heimreisepapieren) hätten beitragen können, erfüllt.

a) Bei der Prüfung, wem objektiv bestehende Ausreisehindernisse angelastet werden, wenn es um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG geht, kommt der Frage entscheidende Bedeutung zu, was das Gesetz unter dem Begriff des "Verschuldens" versteht bzw. was "zumutbar" im Sinne dieser Vorschrift ist. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe unterliegen in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung.

(5) Der Senat geht vom Ansatz her - mit Blick auf den Gesetzestext und die hierzu vorliegenden Materialien - davon aus, dass es nicht möglich ist, die Verantwortung für die Beseitigung von Ausreisehindernissen entweder der Ausländerbehörde oder dem Ausländer allein und ausschließlich aufzuerlegen.

(a) Zunächst trifft, wie aus § 82 Satz 1 AufenthG und dem subjektiven Begriff des "Verschuldens" folgt, den Ausländer eine Mitwirkungspflicht sowie eine Initiativpflicht.

Dies bedeutet einerseits, dass er an allen (zumutbaren) Handlungen mitwirken muss, die die Behörden von ihm verlangen.

Daneben steht ihm jedoch nicht die Möglichkeit offen, ansonsten völlig untätig und passiv zu bleiben und nur darauf zu warten, welche weiteren Handlungen die Behörde noch von ihm verlangt. Er kann sich mithin nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten stützen, die ihm konkret vorgegeben werden. Vielmehr ist auch der ausreisepflichtige Ausländer, dem das Bestehen von der Ausreise entgegen stehenden Gründen bekannt ist, gehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen, um nach Möglichkeiten zu suchen, dieses bestehende Ausreisehindernis zu beseitigen.

Eine Grenze ergibt sich dabei aus der Frage, welche Möglichkeiten ihm bei objektiver Betrachtungsweise bekannt sein können. Nur insoweit kann ihm nämlich eine subjektive Verantwortlichkeit und ein Verschulden angelastet werden. Handlungen, die unmöglich, unzumutbar oder unverhältnismäßig sind, können auch im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG nicht verlangt werden. Je nach Herkunftsland und persönlicher Situation des Betroffenen kann diese Frage naturgemäß unterschiedlich zu beantworten sein. Beispielsweise ist es durchaus möglich, dass die Einschaltung eines Anwalts im Heimatland von einem Ausländer nicht gefordert werden kann, weil ihm dieser Weg unbekannt ist oder entsprechende Kontakte gänzlich fehlen. Auch können keine Unterlagen aus der Heimat nachgefordert werden, wenn der Ausländer dort über keinerlei Bezugspersonen mehr verfügt. Allerdings gilt, dass dann, wenn bestimmte Dokumente nicht mehr vorhanden sind, sich der Ausländer durchaus Gedanken darüber zu machen hat, mit welchen anderen Unterlagen oder Schriftstücken er seine Herkunft und Identität beweisen kann. Eine zweite Grenze der zu fordernden Initiativen bilden daneben die Fälle, in welchen weitere Handlungen nicht zugemutet werden können. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Ausländer durch Nachfragen in seiner Heimat Familienangehörige in akute Lebensgefahr bringt, wenn mit weiteren Ermittlungen so erhebliche Kosten verbunden wären, dass sie von ihm nicht aufgebracht werden können oder wenn er gesundheitlich etwa nicht in der Lage ist, erforderliche Handlungen durchzuführen.

Die Erfüllung der dem Ausländer obliegenden Pflichten (Mitwirkungspflicht und Initiativpflicht) hat dieser zu belegen und nachzuweisen. Gelingt ihm dies nicht, spricht vieles für die Annahme, er habe die Ausreisehindernisse verschuldet bzw. zumutbare Anforderungen nicht erfüllt.

(b) Auf der anderen Seite bestehen auch Pflichten der Ausländerbehörde, Ausreisehindernisse zu beseitigen bzw. hieran mitzuwirken.

Die zuständige Behörde hat, wie dies auch § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorgibt, den Ausländer auf seine Pflichten hinzuweisen. Sie hat ihm also grundsätzlich mitzuteilen, dass und in welchem Umfang er zur Erbringung von Handlungen verpflichtet ist. Diese Hinweise müssen so gehalten sein, dass es für den Ausländer hinreichend klar erkennbar ist, welche Schritte er zu unternehmen hat. Ein bloßer allgemeiner Verweis auf bestehende Mitwirkungspflichten oder die Wiedergabe des Gesetzestextes wird diesen Anforderungen nicht gerecht.

Daneben ist die Behörde auch gehalten, von sich aus das Verfahren weiter zu betreiben und auf weitere, dem Antragsteller gegebenenfalls nicht bekannte Möglichkeiten aufmerksam zu machen und diese Möglichkeiten mit dem Ausländer bei Bedarf zu erörtern (Anstoßpflicht).

Auch der Behörde obliegt es im Übrigen nachzuweisen bzw. zu belegen, dass sie ihren Pflichten (Hinweispflicht und Anstoßpflicht) nachgekommen ist. Gelingt dies nicht, so spricht vieles dafür, dass das Bestehen eines Ausreisehindernisses nicht vom Ausländer zu vertreten ist.

(c) Die den am Verfahren Beteiligten obliegenden Pflichten stehen schließlich in einem Verhältnis der Wechselseitigkeit. Je eher der eine Teil seine Obliegenheiten erfüllt, desto weniger kann sich der andere Teil darauf berufen, das Bestehen eines Abschiebehindernisses werde nicht von ihm verschuldet, sondern sei von der anderen Seite zu vertreten oder zu verantworten. In der praktischen Anwendung bedeutet dies, dass die Behörde von einem Verschulden des Ausländers ausgehen kann, wenn dieser Pflichten nicht erfüllt, die ihm konkret abverlangt wurden. Dies gilt jedoch dann nicht mehr, wenn der Ausländer sämtliche Anforderungen erfüllt hat und einerseits keine nahe liegenden Möglichkeiten mehr bestehen, Ausreisehindernisse zu beseitigen, andererseits eine Aufforderung zu weiteren Mitwirkungshandlungen der Behörde unterblieben ist.

Wenn beide Seiten ihre Obliegenheiten erfüllt haben und das Ausreisehindernis gleichwohl nicht beseitigt werden konnte, kann dies nicht zulasten des Ausländers gehen. Ein Verschulden im Sinne einer subjektiven Vorwerfbarkeit liegt dann nämlich nicht vor. Dies ist etwa der Fall, wenn Dritte, zum Beispiel die Vertretung des Heimatstaates, sich trotz entsprechender Aufforderungen weigern, Heimreisedokumente auszustellen (vgl. hierzu Marx, Verfestigung des Aufenthaltsrechts im Übergangsprozess zwischen Ausländerrecht 1990 und Aufenthaltsgesetz 2004, ZAR 2004, 403/408).

b) Legt man diese Überlegungen im vorliegenden Fall zugrunde, so ist festzuhalten, dass der Kläger unverschuldet an der Ausreise gehindert ist.

(1) Der Kläger hat zunächst seine Mitwirkungspflichten erfüllt.

Der Kläger hat schließlich belegbar auch nichts unternommen, was darauf hinweisen könnte, dass er Passbeschaffungsmaßnahmen boykottiert hätte. Letztlich hat er zu keinem Zeitpunkt nachweisbar im ausländerrechtlichen Verfahren über seine Identität getäuscht. Entsprechendes wurde substantiiert von der Beklagten auch nicht vorgetragen.

Der entscheidende Hintergrund für die Passlosigkeit des Klägers ist somit nicht seine fehlende Mitwirkung, sondern die Untätigkeit der pakistanischen Vertretung, wenn es darum geht, Papiere für den Kläger auszustellen.

(2) Der Kläger hat - soweit geboten - auch die ihm obliegenden Initiativpflichten erfüllt, wobei auch insoweit auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vor dem Senat) abzustellen ist.

Dabei kann der Beklagten durchaus hinsichtlich der Aussage zugestimmt werden, dass der Kläger zunächst über einige Jahre hinweg keine besonderen Aktivitäten an den Tag gelegt hat, um Heimreisepapiere zu erhalten.

Die Beklagte hat ihre zunächst vertretene Auffassung, der Kläger müsse ständig bei seiner Botschaft nachfragen, warum er keine Papiere erhalte, aufgegeben. Bereits im Beschluss über die Gewährung von Prozesskostenhilfe vom 19. Dezember 2005 (Az. 24 C 05.2856) hat der Senat darauf hingewiesen, dass es unbeachtlich bleiben muss, dass der Kläger sich nicht ständig bei seiner Botschaft nach dem Stand des Verfahrens erkundigt hat. Es sei nämlich nicht erkennbar, welcher Vorteil damit für den Gang des Verfahrens verbunden gewesen wäre.

In gleicher Weise spielt es auch keine Rolle, ob der Kläger selbst ein besonderes Interesse an einer Rückkehr in sein Heimatland hat. Dies wird tatbestandlich von § 25 Abs. 5 AufenthG nicht vorausgesetzt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts Regensburg hierzu in der angegriffenen Entscheidung (Seiten 13 und 14) geht an der rechtlichen Fragestellung bzw. den gesetzlich normierten Voraussetzungen der Vorschrift vorbei. Es spielt keine Rolle, ob der Kläger ein erhebliches Desinteresse an der Ausreise zeigt oder nicht.

In diesem Zusammenhang spielt es auch keine Rolle, ob es anderen Ausländern "in aller Regel durchaus möglich" ist, in kurzer Zeit Identitätspapiere zu erhalten (Seite 14 der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung). Bei der Frage, ob ein Ausländer nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG unverschuldet an der Ausreise gehindert ist, ist allein darauf abzustellen, ob der Einzelne zumutbare Anforderungen erfüllt hat oder nicht.

(3) Die Tatsache, dass der Kläger bislang seinen Heimatstaat nicht verklagt hat, ist nicht geeignet, eine Pflichtverletzung im hier maßgeblichen Sinn zu begründen.

Mit Schreiben vom 21. November 2006 teilte die Beklagte dann mit, dass eine bestimmte Möglichkeit bestehe, das pakistanische Außenministerium und den pakistanischen Botschafter in Berlin mittels einer so genannten "Writ" vor dem zuständigen High Court in Rawalpindi auf Ausstellung eines Reisepasses zu verklagen. Sie bezieht sich dabei allein auf eine E-Mail vom 30. Oktober 2006 (Bl. 60 der VGH-Akte), in welcher sehr knapp und äußerst ungenau mitgeteilt wird, "es bestehe die Möglichkeit". In der mündlichen Verhandlung wurde deshalb auch von der Vertreterin der Beklagten geltend gemacht, die Tatsache, dass der Kläger diese Möglichkeit nicht ergriffen habe, stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegen.

Auch diese Auffassung teilt der Senat nicht. Es kann von einem Ausländer im Regelfall nicht erwartet werden, dass er eine völlig unbekannte, unsichere und mit nicht kalkulierbaren Aufwendungen bzw. Kosten verbundene Rechtsschutzmöglichkeit im Ausland ergreift, wenn es darum geht, bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten mitzuwirken. So liegt der Fall hier aber. Selbst die Beklagtenvertreterin hat in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass der von ihr vorgeschlagene Weg nach ihrer eigenen Kenntnis noch nie ergriffen worden sei. Wesentliche Voraussetzungen und Verfahrensfragen sind ungeklärt.

Es mag durchaus Fälle gegen, in welchen es dem Ausländer unter bestimmten Bedingungen zugemutet werden kann, rechtli-che Schritte gegen Behörden seines Heimatstaates zu ergreifen. Dies setzt aber voraus, dass ihm dieser Weg hinreichend genau aufgezeigt worden ist und ihm auch die Mittel hierfür zur Verfügung stehen. Vorliegend kann hiervon derzeit noch nicht ausgegangen werden.

(4) Die Beklagte hat ihrerseits die ihr obliegende Hinweispflicht in ausreichendem Umfang erfüllt. Sie hat den Kläger vielfach aufgefordert, Heimreisedokumente zu beantragen und bei der Vertretung seines Heimatlandes vorzusprechen.

Die Beklagte hat auch die ihr obliegende Anstoßpflicht nicht verletzt.

(5) Zusammenfassend ist nach Auffassung des Senats vorliegend davon auszugehen, dass sowohl der Kläger wie auch die Beklagte derzeit alles getan haben, um das bestehende Ausreisehindernis zu beseitigen. In einem solchen Fall kann nicht vom Verschulden der einen oder anderen Seite gesprochen werden. Weder hat die Beklagte ihre Pflichten verletzt, noch ist dies dem Kläger vorzuwerfen.

Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, worauf der Senat ergänzend hinweist, ob es andere Fälle gibt, in denen pakistanische Staatsangehörige in der Lage sind, Reisepapiere zu beschaffen. Für die Frage des Verschuldens eines konkreten Ausländers kann dies keine Rolle spielen. Auch die im Schreiben vom 8. Juni 2006 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Bl. 115 der VG-Akte) dargelegten jahrelangen Erfahrungen der Ausländerbehörde, die belegen sollen, dass es pakistanischen Staatsangehörigen immer möglich gewesen sei, einen Pass zu erhalten, sind nicht geeignet, dem Kläger subjektiv eine Pflichtverletzung vorzuwerfen.

Es spielt auch keine Rolle, ob der Kläger mit oder ohne Pass eingereist ist. Das Verwaltungsgericht hat die Frage, ob dies bereits ein Verschulden begründen kann, auf Seite 9 der angegriffenen Entscheidung dahingestellt sein lassen. Im Beschluss des Senats vom 19. Dezember 2005 (Az. 24 C 05.2856) wurde hierzu ausgeführt, dass es unbeachtlich sei, dass der Kläger illegal eingereist sei. Es handle sich um ein "Vergehen", welches sich vor mehr als zehn Jahren ereignet habe. Vieles spreche dafür, dass dies nicht gleichzeitig auch ein Verschulden im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG darstelle. Hieran wird festgehalten. Andernfalls würde man den Anwendungsbereich des § 25 Abs. 5 AufenthG auf solche Ausländer beschränken, die legal mit einem Pass nach Deutschland eingereist sind. Hierfür besteht keine Veranlassung oder Rechtfertigung.

Unerheblich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Pflicht zur Ausreise nach § 50 Abs. 1 AufenthG naturgemäß nur den Ausländer selbst trifft (so das VG Regensburg auf Seite 10 der angegriffenen Entscheidung). Es ist selbstverständlich so, dass nur der Ausländer selbst ausreisen kann, nicht die Ausländerbehörde. Für die Beantwortung der hier entscheidungserheblichen Fragestellung können sich hieraus aber keine verwertbaren Folgerungen ableiten lassen.

Deshalb stellt sich hier auch nicht die Frage der materiellen Beweislast. Wenn sich trotz aller Aufklärung nicht feststellen lässt, welche Möglichkeiten zur Beschaffung von Dokumenten noch bestehen, so geht dies grundsätzlich weder zu Lasten der Behörde, noch zu Lasten des Ausländers. Auch kommt der Ausländerbehörde hier keine "Beweisführungserleichterung zu Gute", wie das Verwaltungsgericht Regensburg im Urteil vom 13. Juli 2006 auf Seite 13 meint. Die Behörde darf gerade nicht unterstellen, dass einem Andauern eines Ausreisehindernisses die Weigerungshaltung des betreffenden Ausländers zugrunde liegt. Vielmehr geht es hier um die Frage, ob das Tatbestandsmerkmal "unverschuldet" erfüllt ist oder nicht. Hiervon kann - wie vorliegend - eben nicht ausgegangen werden, wenn der Ausländer die ihm obliegenden Pflichten erfüllt und alle bestehenden Möglichkeiten ausgeschöpft hat.