VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 11.10.2006 - 8 K 1146/02.A - asyl.net: M9628
https://www.asyl.net/rsdb/M9628
Leitsatz:
Schlagwörter: Ukraine, Verfahrensrecht, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Gemeinschaftsunterkünfte, Zustellung, Ablehnungsbescheid, Briefkasten, Verschulden, Glaubwürdigkeit, Fälschung, Geheimnisverrat, Militärangehörige, Desertion, Strafverfahren, Strafe, Politmalus, menschenrechtswidrige Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, faires Verfahren, fair trial, politische Entwicklung, Menschenrechtslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 6; VwGO § 60
Auszüge:

Der Kläger kann sich nicht auf das mit seinem Hauptantrag geltend gemachte Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG berufen.

Das Gericht legt den vom Kläger dargelegten Sachverhalt als zutreffend zugrunde. Aufgekommene Zweifel, die sich allein auf die vom Kläger vorgelegte angebliche Bescheinigung des Stabschefs T. beziehen, haben sich nach den Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2006 erledigt. Das Gericht geht davon aus, dass es sich hierbei um eine gefälschte Bescheinigung handelt, die die Ehefrau des Klägers beschafft und ihm zugesandt hat, um seine Chancen auf Asyl-Anerkennung zu erhöhen, ohne ihm die Tatsache der Fälschung offen zu legen. Die eigentliche Verfolgungsgeschichte des Klägers begegnet keinen Zweifeln. Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 7. April 2004 (vgl. auch den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. März 2003) dargelegt, dass dem Kläger nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch allein wegen eigenmächtigen Verlassens des Militärdienstes bzw. Desertion eine langjährige Gefängnisstrafe droht, wobei der Vorwurf des Geheimnisverrats zu einer noch höheren Bestrafung führen würde. Hieraus folgt aber nicht eine Einordnung des Klägers als politisch Verfolgter. Strafrechtliche Bestimmungen über den Militärdienst und die Wahrung militärischer Geheimnisse stellen im Grundsatz kein Instrument politischer Verfolgung dar. Jedem Staat steht es frei, sich mit den Mitteln des Strafrechts gegen derartige Angriffe auf seine Grundordnung zu schützen. Eine politische Verfolgung kann nur angenommen werden, wenn bereits die Norm als solche ihrer objektiven Gerichtetheit nach an ein asylrelevantes Persönlichkeitsmerkmal anknüpft oder wenn die Anwendung einer Strafvorschrift, die für sich betrachtet asylrechtlich unerheblich ist, allgemein oder im Einzelfall zum Anlass genommen wird, auf asylrechtlich bedeutsame persönliche Merkmale oder Eigenschaften zuzugreifen, d. h. die jeweilige Person unter dem Mantel strafrechtlicher Verfolgung gerade auch in dieser Beziehung zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1992 - 9 C 70/91 -, InfAuslR 1993, 154/155, DVBl 1993, 325, NVwZ 1993, 789).

Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Ein "Polit-Malus" im Sinne einer verschärften Bestrafung wegen eines asylerheblichen Merkmals kann hier weder nach der Auskunftslage noch nach den Umständen des Einzelfalles festgestellt werden. Allerdings erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist hier deshalb zu bejahen, weil nach Auffassung des Gerichts in diesem besonderen Einzelfall in der Ukraine die in Art. 6 EMRK geschützten Garantie auf ein faires Verfahren nicht beachtet würde. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist ein Abschiebungsverbot aufgrund des Art. 6 EMRK denkbar, wenn der Betroffene im Abschiebezielstaat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren musste oder hierfür ein Risiko besteht und dem Ausländer nach seiner Abschiebung schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989 - 1/1989/161/217 (Soering) -, EuGRZ 1989, 314, NJW 1990, 2183; BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 - 1 C 14/04 -, BVerwGE 122, 271, DVBl 2005, 641, NVwZ 2005, 704, NWVBl 2005, 260).

Dass Gericht geht nicht davon aus, dass allgemein wegen Militärstraftaten strafrechtlich Verfolgte in der Ukraine generell die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 EMRK erfüllen. Vielmehr sind diese Voraussetzungen in dem vorliegenden besonderen Einzelfall aufgrund der Kombination der allgemeinen Verhältnisse in der Ukraine und des vom Kläger glaubhaft dargelegten Geschehens gegeben.

Die Lageberichte des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, zuletzt vom 19. März 2003, allerdings tendenziell und teilweise aufgrund des zwischenzeitlich fortgeschrittenen Demokratisierungsprozess zu relativieren, kennzeichnen den Staat einerseits seit Jahren als demokratisch und freiheitlich mit einer stabilen rechtsstaatlichen Verfassung, die unabhängige Gerichte und Schutz vor staatlichen und nicht staatlichen Willkürakten garantiere. Die Lageberichte verschweigen andererseits nicht, dass in der Ukraine alte Strukturen im Bereich der Sicherheitsdienste noch nicht überwunden sind und die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden noch immer im Wesentlichen traditionellen Mustern folgt.

Für die Bereiche des Sicherheitsapparats und der Justiz stellt sich die Lage hinsichtlich der Umsetzung der artikulierten politischen Ziele allerdings wenig hoffnungsvoll dar. In allen menschenrechtsrelevanten Bereichen bestehen Mängel. Insbesondere aus dem Polizeigewahrsam und den Haftanstalten wird über massive Menschenrechtsverletzungen, mitunter über Zustände berichtet, die der Folter gleichkommen, mitunter auch über Tötungsfälle (im Polizeigewahrsam). Dabei bestehen Defizite besonders bei den Rechten der staatlichen Sonderverhältnissen unterworfenen Personen wie etwa Militärangehörigen.

Das die den Strafverfolgungs-, Justiz- und Strafvollstreckungsbereich betreffenden Einschätzungen des Auswärtigen Amtes in seinem Lagebericht vom 19. März 2003 noch nicht überholt sind, ergibt sich aber aus anderen Quellen (nach dem amnesty-journal November 2005) sind Folter und Misshandlungen auf Polizeirevieren nach wie vor alltäglich.

Die Probleme der Folter und sonstiger Menschenrechtsverletzungen dauern an. Es besteht für Personen, die in den Fokus der Sicherheitsorgane geraten, ein hohes Risiko, bei den "Ermittlungen" durch Misshandlungen schweren Schaden zu nehmen (Bericht (Country Summary) von Human Rights Watch vom Januar 2006 über die Ukraine).

Die Justizstrukturen haben die Justiz in Misskredit gebracht. Der Grundsatz des fairen Verfahrens sei unterminiert. Die Richterschaft sei nicht unabhängig und respektiere elementare rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze nicht (Dominique Arel, Lehrstuhl für ukrainische Studien an der Universität Ottawa, Freedom-House-Bericht (Country Report) Ukraine 2006).

Aufgrund dieser Lage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger im Fall einer Rückkehr in die Ukraine mit höchster Wahrscheinlichkeit keine realistische Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren hätte. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Kläger als Verifikationsoffizier eine erheblich herausgehobene Position innehatte und sein Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit schon deshalb große Beachtung gefunden hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Fall in der Ukraine mit den Jahren in Vergessenheit geraten ist. Vielmehr würde man sich im Fall einer Rückkehr mit Sicherheit seiner erinnern. Es ist ernstlich zu befürchten, dass er angesichts der ihm schon vor seiner Ausreise zuteil gewordenen Vorverurteilung durch die militärischen Untersuchungsführer und angesichts der Schwere des ihm vorgeworfenen Delikt des Geheimnisverrats ohne eine Möglichkeit der Verteidigung dem ukrainischen, oben beschriebenen "Ermittlungsapparat" mit der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen unterworfen ist und sodann unschuldig langjährig in Haft gerät, die ihrerseits Menschenrechtsstandards vielfach nicht gerecht wird.