VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 15.11.2006 - A 7 K 295/06 - asyl.net: M9702
https://www.asyl.net/rsdb/M9702
Leitsatz:
Schlagwörter: Nigeria, HIV/Aids, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Kostenübernahme, Sozialamt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 5; VwVfG § 48 Abs. 1
Auszüge:

Die auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG gerichtete Klage ist zulässig und begründet.

Die HIV infizierten Personen in Nigeria bilden nach Auffassung des Gerichts eine Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, der der Kläger angehört. Denn nach offiziellen Schätzungen sind in Nigeria etwa 5 Prozent der Bevölkerung HIV infiziert, wobei die tatsächliche Rate noch höher liegen soll (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16.05.2006). Daher kann der Kläger auch aus diesem Grunde die Feststellung eines Abschiebungsverbots wegen seiner HIV Infektion nur bei bestehen einer - oben beschriebenen - extremen Gefahrensituation beanspruchen.

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme geht das Gericht davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Nigeria einer solchen extremen Gefahr für Leib und Leben im oben beschriebenen Sinne ausgesetzt wäre.

Auch nach dem vom Gericht eingeholten bei Prof. Gregor von der Medizinische Klinik der Universität Tübingen in Auftrag gegebenen, von den Oberärzten Dr. Raible und Dr. Kortüm erstellten Gutachten vom 09.05.2006 wäre bei einer Unterbrechung der Behandlung des Klägers schnell mit einem Absinken der CD-4-Zellzahl und einer Erhöhung der Viruslast zu rechnen. Ohne eine Therapie müsse damit gerechnet werden, dass der Kläger innerhalb der ersten 1 - 3 Jahre eine Aidserkrankung entwickeln würde. Ob er an solchen aidsdefinierenden Erkrankungen wie z.B. Tuberkulose, Pneumozystis carinii, Cytomegalie-Virus, Lymphome, Salmonellen-Sepsis, Kryptosporidien, Kryptokokkose, Enzephalopathien überlebe, hänge von der medizinischen Versorgung des jeweiligen Landes ab. Bei entsprechender Therapie könne eine solche Erkrankung möglicherweise beim ersten oder zweiten Mal überlebt werden, dann schreite die Immunsuppression fort und der Patient versterbe an der nächsten opportunistischen Erkrankung. Dies könne nach einem Jahr oder nach zehn Jahren passieren. Erfolge eine Therapie ohne ärztliche Behandlung, könnten Nebenwirkungen der Medikamente, z. B. Blutungen und starker Hämoglobinabfall, sowie Resistenzen gegen das Medikament, die zu einem unentdeckten Fortschreiten der Erkrankung Richtung Aidsstadium führen würden, auftreten und nicht rechtzeitig erkannt werden, so dass der Patient daran versterben würde. Damit ist festzuhalten, dass es bei einem Abbruch der Behandlung zum Auftreten von lebensbedrohlichen Infektionen beim Kläger kommen würde.

In Nigeria ist zwar eine umfassende medizinische Behandlung, auch von HIV/Aids, wie sie der Kläger benötigt, möglich. Die Patienten müssen aber, wie sich der vom Gericht eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Lagos vom 27.04.2006 entnehmen lässt, die Behandlungskosten selbst tragen. Nach dieser Auskunft gibt es keine freie Gesundheitsfürsorge in Nigeria. In den meisten Fällen werden Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte nur gegen Vorkasse tätig. Behandlungen und HIV Medikamente sind in Nigeria sehr teuer, müssen ebenfalls von dem Patienten selbst bezahlt werden. Ein verlässliches Programm, das einen kostenlosen Zugang zu einer HIV-Therapie garantiert, existiert in Nigeria nach wie vor nicht.

Dass dem Kläger die Finanzierung der für ihn erforderlichen Behandlung in Nigeria möglich sein könnte, kann nach seinen substantiierten und glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung über seine familiären, sozialen und finanziellen Verhältnisse nicht angenommen werden.

Die vom beklagten Bundesamt vorgelegte Erklärung des Landratsamts Schwäbisch Hall vom 31.07.2006 gegenüber der Bezirksstelle für Asyl beim Regierungspräsidium Stuttgart, wonach das Landratsamt ausnahmsweise eine Kostenübernahmezusage für die Dauer von max. 2 Jahren ab Aufenthaltsbeendigung zur Teilnahme an dem staatlichen Aidsprogramm in Nigeria in Höhe von monatlich max. 35 EUR für den Kläger gebe, ist nicht geeignet, die Annahme einer extremen Gefahr für den Kläger in Folge eines Abbruchs der HIV-Therapie und der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen in Folge fehlender finanzieller Mittel nach einer Abschiebung nach Nigeria auszuräumen. Zum einen handelt es sich schon um keine verbindliche gegenüber dem Kläger abgegebene und von diesem einklagbare Zusage. Des weiteren ist die Erklärung auch ihrem Inhalt nach nicht hinreichen bestimmt, da nur ein maximaler Betrag und eine maximale Zeitdauer der Kostenübernahme, nicht aber ein Minimum angegeben werden. Darüber hinaus wäre, sofern es sich bei der Zusage um einen Verwaltungsakt handeln sollte, dieser auch rücknehmbar, da es, wie das Landratsamt selbst ausführt, an einer Rechtsgrundlage für diese Zusage fehlt. Und schließlich wäre es, selbst wenn die vollständige Übernahme der Kosten auf die Dauer von zwei Jahren gewährleistet wäre, dem Kläger aller Voraussicht nach auch nach dieser Übergangsfrist aufgrund seiner familiären und finanziellen Verhältnisse nicht möglich, die danach noch erforderliche weitere Behandlung ohne weitere finanzielle Hilfe zu sichern.