VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 15.09.2006 - 5 A 1181/06.A - asyl.net: M9746
https://www.asyl.net/rsdb/M9746
Leitsatz:
Schlagwörter: Erlöschen, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Asylberechtigung, Feststellungsklage, Feststellungsinteresse, Schutzunterstellung, Besuchsreisen, Verzicht, psychische Erkrankung
Normen: AsylVfG § 72 Abs. 1; VwGO § 43 Abs. 1; VwGO § 43 Abs. 2
Auszüge:

Die Klage hat mit ihrem Hauptantrag Erfolg.

Die Klage ist mit ihrem Antrag auf Feststellung, dass die frühere Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter nicht erloschen ist, zulässig und begründet.

Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 43 Abs.1 VwGO an der Feststellung, dass seine mit Bescheid vom 18. Juni 1996 erfolgte Anerkennung als Asylberechtigter nicht erloschen ist. Das Bundesamt ist in seinem Bescheid vom 5. Juli 2004 inzident davon ausgegangen, dass diese Anerkennung gemäß § 72 Abs.1 AsylVfG kraft Gesetzes erloschen ist und hat hieran anknüpfend eine die Asylberechtigung sowie die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 53 AuslG a. F. verneinende Sachentscheidung getroffen und diese mit einer Abschiebungsandrohung verbunden, so dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der Klärung seines asylrechtlichen Status nicht zweifelhaft sein kann (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 2. Dezember 1991 - 9 C 126.90 -, in: Entscheidungen des BVerwG (BVerwGE) Band 89, S.231 ff. zu § 15 AsylVfG a.F.).

Der Zulässigkeit der Feststellungsklage steht auch nicht § 43 Abs.2 VwGO entgegen, weil der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen könnte. Da das Erlöschen einer Anerkennung als Asylberechtigter nach § 72 Abs.1 AsylVfG kraft Gesetzes eintritt, greift die Subsidiaritätsklausel des § 43 Abs.2 VwGO grundsätzlich nicht ein (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1991 - 9 C 126.90 -, a.a.O.).

Vorliegend bedarf es der erhobenen Feststellungsklage auch trotz der zugleich erhobenen Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 5. Juli 2004, da mit der Anfechtungsklage nur die Aufhebung der dort getroffenen negativen Feststellungen und der Abschiebungsandrohung, nicht aber die positive Feststellung erreicht werden kann, dass die frühere Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter fortbesteht.

Die Feststellungsklage ist auch begründet, denn die mit Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juni 1996 erfolgte Annerkennung des Klägers als Asylberechtigter ist nicht erloschen.

Gemäß § 72 Abs.1 AsylVfG in seiner seit dem 1. Juli 1993 inhaltlich unveränderten Form erlöschen die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG (früher: § 51 Abs.1 AuslG) vorliegen, von hier ersichtlich nicht einschlägigen Fällen abgesehen, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt (§ 72 Abs.1 Nr.1 AsylVfG) oder er auf die Anerkennung und Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG vorliegen, verzichtet (§ 72 Abs.1 Nr.4 AsylVfG).

Dabei ist anerkannt, dass ein Verlusttatbestand nach § 72 Abs.1 AsylVfG so eindeutig gegeben sein muss, dass am Verlust der Rechtsstellung kein Zweifel besteht (vgl. Marx, AsylVfG, 6. Auflage, 2005, § 72 AsylVfG, Rz. 45; Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 2005, § 72 AsylVfG, Rz. 6; vgl. auch Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel, Beschluss vom 9. Juni 1994 - 13 TP 506/94 - und Urteil vom 17. Dezember 1997 - 11 S 2193/97 - sowie VG Berlin, Beschluss vom 13. Juni 2002 - 21 A 225.02 -, jeweils abrufbar in JURIS).

Das Erlöschen der Asylberechtigung durch die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses setzt neben der Annahme des Vorteils in Form der Passerlangung voraus, dass die Vornahme der Handlung objektiv als eine erneute Unterstellung unter den Schutz des Heimatstaates zu werten ist und dass die Annahme in subjektiver Hinsicht freiwillig erfolgte. Entscheidend ist, ob aus dem Verhalten des Asylberechtigten auf eine veränderte Einstellung zum Heimatstaat geschlossen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1991 - 9 C 126.90 -, a.a.O.).

Dabei ist anerkannt, dass der Begriff der freiwilligen Unterschutzstellung mit Blick auf die oben dargelegten Erwägungen eng zu verstehen ist. Hiernach lassen nicht etwa nur durch unwiderstehlichen Zwang bedingte Handlungen des Asylberechtigten dessen Rechtsstellung unberührt. Vielmehr kann von einer zum Erlöschen der Asylberechtigung führenden freiwilligen Unterschutzstellung schon dann nicht mehr gesprochen werden, wenn ein - in seiner Urteils- und Entschlussfähigkeit an sich nicht beeinträchtigter - Asylberechtigter eine im Tatbestand des § 72 Abs.1 Nr.1 AsylVfG genannte Handlung etwa zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht vornimmt (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1991 - 9 C 126.90 -, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1996 - 13 S 3392/95 - in: Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht (EZAR) 211 Nr.4; VG Köln, Urteil vom 11. März 1983 - 2 K 13729/91 -, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1983, S.498).

Können demnach bereits moralische Nöte oder eine besondere Drucksituation des in seiner Entscheidungsfreiheit im Übrigen nicht beeinträchtigten Asylberechtigten die Annahme einer freiwilligen Unterschutzstellung ausschließen, so kann von einer solchen erst recht nicht die Rede sein, wenn die generelle Fähigkeit des Asylberechtigten zu einer freien Willensbildung oder -betätigung zum Zeitpunkt der Vornahme der in Rede stehenden Handlungen aufgrund einer psychischen Erkrankung zumindest erheblich vermindert oder gar ausgeschlossen war.

Insofern kann mit Blick auf die psychische Erkrankung des Klägers nach Auffassung der Kammer nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens aber zumindest nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei Annahme des Passes und anschließender Ausreise in den Iran an psychischen Beeinträchtigungen im oben dargelegten Sinne litt.

Soweit die Beklagte grundsätzliche Bedenken gegen die Annahme, dass der Kläger schon in 1999/2000 an einer seine Willensfreiheit durchgreifend beeinträchtigenden psychischen Erkrankung gelitten hat bzw. haben könnte, aus dem Umstand herleitet, dass eine Betreuung des Klägers erst im Jahr 2004, nicht aber schon im Jahr 2000 eingerichtet worden sei, was jedoch im Falle schon damals fehlender Zurechnungsfähigkeit zu erwarten gewesen wäre, zieht dies allein die Möglichkeit einer bereits damals bestehenden erheblichen Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Klägers schon deshalb nicht in Zweifel, weil eine solche unabhängig davon bestehen kann, ob dieserhalb eine Betreuung eingerichtet wird oder ob eine solche - eine Initiative des Betroffenen oder Dritter voraussetzende - Einrichtung unterbleibt. Die Einrichtung einer Betreuung, die im Übrigen nicht nur wegen einer fehlenden Initiative z.B. infolge von Krankheitsuneinsichtigkeit des Betroffenen, sondern auch etwa wegen Problemen im Umgang mit Behörden, Sprachproblemen und ähnlichem verzögert werden oder unterbleiben kann, ist insofern nicht gleichsam "konstitutiv" für eine psychisch bedingte, die Annahme einer freiwilligen Unterschutzstellung ausschließende Beeinträchtigung der Willensfreiheit.

Ist die frühere Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter nach alledem nicht nach § 72 Abs.1 Nr.1 AsylVfG erloschen, so ist auch der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs.1 Nr.4 AsylVfG nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit durch die vom Kläger unter dem 27. Januar 2000 unterschriebene Verzichtserklärung erfüllt.