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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 - asyl.net: M9759
https://www.asyl.net/rsdb/M9759
Leitsatz:

1. Tschetschenische Migranten finden in der Russischen Föderation grundsätzlich eine sog. inländische Fluchtalternative.

2. Allerdings versuchen örtliche russische Behörden - weitgehend außerhalb der Gesetzeslage - die Niederlassung von Migranten zu unterbinden, wovon alle Volksgruppen, nicht nur Tschetschenen betroffen sind.

3. Es kommt auf die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles an, ob die Annahme gerechtfertigt ist, dass die Schwierigkeiten bei der Ansiedlung zu überwinden sind.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Inhaftierung, Freilassung, Bestechung, Lösegeld, interne Fluchtalternative, Freizügigkeit, Krankheit, alleinerziehende Frauen, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung,
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Tschetschenische Migranten finden in der Russischen Föderation grundsätzlich eine sog. inländische Fluchtalternative.

2. Allerdings versuchen örtliche russische Behörden - weitgehend außerhalb der Gesetzeslage - die Niederlassung von Migranten zu unterbinden, wovon alle Volksgruppen, nicht nur Tschetschenen betroffen sind.

3. Es kommt auf die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles an, ob die Annahme gerechtfertigt ist, dass die Schwierigkeiten bei der Ansiedlung zu überwinden sind.

(Amtliche Leitsätze)

 

Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg.

Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) ist nicht gegeben.

Die zunächst als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, ob "der Freikauf eines inhaftierten Tschetschenen in Tschetschenien ein Zeichen dafür ist, dass eine zielgerichtete politische Verfolgung nicht stattgefunden hat", ist auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens ohne weiteres zu bejahen. Sie ist daher nicht klärungsbedürftig. Gerade in Anbetracht der vom Kläger geschilderten Verhältnisse in Tschetschenien ist die Freilassung eines inhaftierten Tschetschenen gegen Zahlung eines Lösegeldes ein gewichtiges Indiz, das regelmäßig gegen dessen gezielte politische Verfolgung spricht. Die Maßnahmen der russischen Sicherheitskräfte in Tschetschenien dienen maßgeblich dem Aufspüren von Untergrundkämpfern und damit der Terrorismusbekämpfung. Wer von ihnen als sog. Separatist erkannt und gerade deswegen inhaftiert worden ist, wird seine Freilassung auch gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes nicht erreichen können. Anderenfalls wäre er erneut in der Lage, gegen das russische Militär gerichtete Handlungen vorzunehmen. Im Übrigen ist die asylrechtliche Bewertung der Freilassung eines Gefangenen eine Frage des Einzelfalles, bei der die jeweiligen Gesamtumstände zu berücksichtigen sind. Sie ist grundsätzlicher Klärung daher nicht zugänglich.

Hinsichtlich der weiteren als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen, "ob Tschetschenen in der Russischen Föderation der Gruppenverfolgung unterliegen und ob in Tschetschenien verfolgten Tschetschenen in Russland eine sichere Zuflucht zur Verfügung steht", hat sich der Senat bereits wiederholt geäußert (vgl. etwa Beschluss v. 24.1.2006 - 13 LA 398/05).

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Frage einer sog. inländischen Fluchtalternative tschetschenischer Migranten und der dazu vorliegenden Spruchpraxis anderer Oberverwaltungsgerichte kann nicht bezweifelt werden, dass die örtlichen russischen Behörden - weitgehend außerhalb der Gesetzeslage - die Niederlassung von Migranten aus welchen Gründen auch immer generell unterbinden wollen. Davon sind aber keineswegs nur die Tschetschenen betroffen. Der russische Premierminister Fradkow hat Anfang Dezember 2006 die Migration "illegaler Ausländer" als Bedrohung der nationalen Sicherheit gewertet (RIA Novosti vom 11.12.2006, Tagesspiegel vom 13.12.2006). Dass im Rahmen einer derartigen politischen Stimmungslage jedwede Niederlassung von Migranten - auch die von Tschetschenen - mit großen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, steht außer Frage. Gleichwohl bleibt der Senat im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. Bay VGH a.a.O.; VGH BW, Urt. v. 25.10.2006 - A 3 S 46/06; u.a.) bei der schon bisher (vgl. B. v. 24.1.2006, a.a.O.) vertretenen Auffassung, dass die Niederlassung von Tschetschenen in der Russischen Föderation grundsätzlich möglich ist. Da aber Schwierigkeiten bei der Ansiedlung durchaus auftreten können, kommt es jeweils auf die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles an. Es spricht einiges dafür, dass ältere und schwer kranke Personen, alleinstehende Frauen mit Kleinkindern ohne verwandtschaftlichen Rückhalt den Anforderungen und Belastungen einer Rückkehr unter den derzeitigen Verhältnissen nicht immer gewachsen sein werden. Damit sind vorliegend die Fragen nach den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und nach dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise, sondern nur in jedem Einzelfall zu beantworten und deshalb grundsätzlicher Klärung nicht zugänglich.