OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 30.01.2007 - 10 ME 264/06 - asyl.net: M9761
https://www.asyl.net/rsdb/M9761
Leitsatz:

Zur Ermessensausübung der Ausländerbehörde.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Vereinbarkeit der Widerrufsentscheidung mit dem nationalen Recht ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Widerrufs. Deshalb kann die Ausländerbehörde allein die Belange des Ausländers ihrer Ermessensentscheidung zugrunde legen, die zum einen offenkundig oder bekannt sind und zum anderen vom Ausländer geltend gemacht worden sind. Hinsichtlich der eigenen Belange trifft den Ausländer eine Mitwirkungspflicht (§ 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).

Bezogen auf die Vereinbarkeit des Widerrufs des Aufenthaltstitels mit der EMRK ist auf die Sach- und Rechtslage der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.

Zur Bedeutung der familiären Bindung zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern.

 

Schlagwörter: D (A), Widerruf, Niederlassungserlaubnis, Asylberechtigte, Ermessen, Beurteilungszeitpunkt, Mitwirkungspflichten, verspätetes Vorbringen, Schutz von Ehe und Familie, volljährige Kinder, Lebensunterhalt, Integration, Privatleben, Situation bei Rückkehr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; VwGO § 114 S. 1; AufenthG § 82 Abs. 1 S. 1; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Zur Ermessensausübung der Ausländerbehörde.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Vereinbarkeit der Widerrufsentscheidung mit dem nationalen Recht ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Widerrufs. Deshalb kann die Ausländerbehörde allein die Belange des Ausländers ihrer Ermessensentscheidung zugrunde legen, die zum einen offenkundig oder bekannt sind und zum anderen vom Ausländer geltend gemacht worden sind. Hinsichtlich der eigenen Belange trifft den Ausländer eine Mitwirkungspflicht (§ 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).

Bezogen auf die Vereinbarkeit des Widerrufs des Aufenthaltstitels mit der EMRK ist auf die Sach- und Rechtslage der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.

Zur Bedeutung der familiären Bindung zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die von der Antragsgegnerin dargelegten Gründe, auf deren Überprüfung sich die Entscheidung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen zu einer Änderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.

Es kann aufgrund des Vorbringens der Beteiligten nicht festgestellt werden, dass das Interesse der Antragsteller, von einer Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit in einem Verfahren zur Hauptsache verschont zu bleiben, das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Durchsetzung überwiegt.

Es ist davon auszugehen, dass die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage der Antragsteller aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird.

Rechtliche Grundlage für den Widerruf ist § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, dessen tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung der Antragsteller als Asylberechtigte mit Bescheid vom 3. Februar 2005 (Az.: 5136533-132) widerrufen hat; das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage mit rechtskräftigem Urteil vom 28. Juni 2005 - Az.: 1 A 16/05 - abgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat das ihr in § 52 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eingeräumte Ermessen fehlerfrei innerhalb der gesetzlichen Grenzen und in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO). Dabei ist bezogen auf die Vereinbarkeit der Widerrufsentscheidung mit nationalem Recht maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2006 - 11 S 951/06 -, ZAR 2006, 414 und Urteil vom 22. Februar 2006 - 11 S 1066/05 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2006 - 18 A 3138/05 -, InfAuslR 2006, 427). Zwar ist im Fall einer Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Bürgers einer der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder eines gleichgestellten Ausländers aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Regelungen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. August 2005 - BVerwG 1 B 8.05 -, Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 28; Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297; Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315). Da die Antragsteller als serbische Staatsangehörige freizügigkeitsberechtigten Bürgern eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union nicht gleichgestellt sind, kann diese Rechtsprechung jedoch auf sie nicht übertragen werden.

Die Antragsgegnerin hat die für die Widerrufsentscheidung maßgeblichen öffentlichen und privaten Belange erhoben und sie ohne Verkennung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Bedeutung ihrer Entscheidung zugrunde gelegt. Insbesondere hat sie die zugunsten der Antragsteller sprechenden Belange, soweit diese ihr mitgeteilt worden oder aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlich sind, in ihre Entscheidung mit eingestellt. Nach Rechtskraft der Entscheidung über den Widerruf der Anerkennung der Antragsteller als Asylberechtigte hat die Antragsgegnerin die Antragsteller unter dem 28. September 2005 zum beabsichtigten Widerruf der Aufenthaltstitel angehört. Obwohl die Antragsteller nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verpflichtet gewesen sind, ihre Belange und die für sie günstigen Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unverzüglich geltend zu machen und entsprechende Nachweise beizubringen, haben sie bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides dem Widerruf ihrer Aufenthaltstitel entgegenstehende Belange gegenüber der Antragsgegnerin nicht vorgetragen. Die der Antragsgegnerin bekannten Gesichtspunkte, die für ein Verbleiben der Antragsteller sprechen, hat die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung entsprechend ihrer Bedeutung gewürdigt.

Dies ist - auch im Hinblick auf den grundrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie - nicht zu beanstanden. Die wechselseitigen Bindungen zwischen Eltern und ihren Kindern wandeln sich und verlieren mit zunehmenden Alter der Kinder an Gewicht mit der Folge, dass sich die zusammen mit minderjährigen Kindern im Regelfall bestehende Lebens- und Erziehungsgemeinschaft mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Kinder von einer Beistandsgemeinschaft schließlich zu einer Begegnungsgemeinschaft entwickelt. Mit der Vollendung des 18. Lebensjahres tritt die vollständige rechtliche Selbständigkeit in allen Lebensbereichen ein. Die bis dahin bestehende elterliche Sorge (§ 1626 BGB) entfällt und die bisherige Verantwortung der Eltern geht auf den Volljährigen über. Es bedarf daher im Regelfall einer näheren Darlegung, dass der Volljährige weiterhin auf den familiären Beistand und die Fürsorge seiner Eltern angewiesen ist. Übertragen auf das Aufenthaltsrecht gebietet der Schutz der Familie grundsätzlich nicht, volljährigen ausländischen Kindern das dauernde Aufenthaltsrecht mit einem im Bundesgebiet lebenden Elternteil zu ermöglichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - BVerwG 1 C 18.96 -, NVwZ 1998, 189; EGMR, Urteil vom 10. Juli 2003 - 53441/99 [Benhebba ./. Frankreich] -, InfAuslR 2004, 182 bezogen auf Art. 8 Abs. 1 EMRK). Dies gilt entsprechend für einen Elternteil eines volljährigen Kindes mit Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet.

Der Widerruf der Aufenthaltstitel der Antragsteller steht auch im Einklang mit Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. II S. 1054 - EMRK -).

Bezogen auf den Schutz der Familie nach Art. 8 Abs. 1 EMRK verweist der Senat auf seine obigen Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 GG. Art. 8 EMRK kann jedenfalls dort keine weitergehenden als die durch Art. 6 Abs. 1 GG vermittelten Schutzwirkungen entfalten, wo sein Anwendungsbereich sich mit dem des Art. 6 Abs. 1 GG deckt. Dies ist für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern der Fall (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 20.97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 14).

Im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung grundsätzlich Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann. Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum einen von der Integration des Ausländers in Deutschland, zum anderen von seiner Möglichkeit zur (Re-)Integration in seinem Heimatland ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Mit zu berücksichtigen ist auch die Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthalts.

Für eine Integration der Antragsteller in die hiesigen Lebensverhältnisse spricht, dass sie sich seit über zwölf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Sie haben sich auch bemüht, die deutsche Sprache zu erlernen. Weiter sind sie nicht straffällig geworden. Indes ist ihnen die wirtschaftliche Integration trotz ihres langen Aufenthalts nicht gelungen. Allein der Verweis auf die schwierige Arbeitsmarktsituation rechtfertigt eine andere Beurteilung nicht, zumal die Antragsteller nachhaltige Bemühungen um einen Arbeitsplatz nicht nachgewiesen haben. Andererseits ist davon auszugehen, dass eine Integration der Antragsteller in ihrem Heimatland nicht mit unzumutbaren Schwierigkeiten verbunden ist. So sind sie von dort als Erwachsene gemeinsam ausgereist. Zuvor haben sie dort den größten Teil ihres Lebens, insbesondere als Erwachsene verbracht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt EGMR, Urteil vom 27. Oktober 2005 - 32231/02 [Keles ./. Deutschland] -, InfAuslR 2006, 3). Demnach ist davon auszugehen, dass sie mit den sozialen und kulturellen Gegebenheiten ihres Heimatlandes vertraut sind. Sie können sich dort ohne weiteres verständigen und verfügen über qualifizierte Berufsabschlüsse. Ihre besondere Verbundenheit mit ihrem Heimatland haben sie ferner dadurch belegt, dass sie zwischen 2002 und 2005 wiederholt dorthin zurückgekehrt sind und sich um Reisedokumente bemüht haben. Zusammenfassend geht der Senat nicht davon aus, dass die mit dem Widerruf verbundene Beendigung des Aufenthalts der Antragsteller unzumutbar und deshalb unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK ist.