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VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 04.01.2007 - AN 11 K 06.30889 - asyl.net: M9828
https://www.asyl.net/rsdb/M9828
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gebietsgewalt, Warlords, Taliban, Karzai, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, zwingende Gründe, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Kabul
Normen: AufenthG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 6; RL 2004/83/EG Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist unbegründet.

1. Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der Fassung von Art. 3 Nr. 46 des Zuwanderungsgesetzes (ZuwanderungsG) vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950 (BVerwG vom 1.11.2005 InfAuslR 2006, 244). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind (die Anerkennung als Asylberechtigter und) die Feststellung, dass die Voraussetzungen des (früheren) § 51 Abs. 1 AuslG - wobei auch die letztere Feststellung wegen ihrer Rechtswirkungen trotz Aufhebung des (§ 51 Abs. 1) AuslG durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 1 des Zuwanderungsgesetzes zulässigerweise Gegenstand des Widerrufs nach § 73 Abs. 1 AsylVfG sein kann (wie hier VG Karlsruhe NVwZ 2005, 725 und VG Köln NVwZ-RR 2006, 67) - vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, wobei selbst ein Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot als solcher aber, da dieses allein im öffentlichen Interesse besteht, nicht zur Rechtswidrigkeit des Widerrufsbescheids führt (BVerwG NVwZ-RR 1997, 741 = BayVBl 1998, 28 und B. v. 12.2.1998, zitiert nach juris, und vom 1.11.2005 InfAuslR 2006, 244 ; OVG RhPf B. v. 21.4.1997, zitiert nach juris und InfAuslR 2000, 468; Nds OVG v. 5.9.2003, zitiert nach asylis/bafl aA VG Frankfurt a. M. InfAuslR 2000, 469 und VG Stuttgart InfAuslR 2003, 261) und wobei § 73 Abs. 2a AsylVfG, der dem Bundesamt eine Prüfungspflicht bei positiven Entscheidungen nach drei Jahren auferlegt, auf Altfälle d.h. auf positive Entscheidungen vor dem 1.1.2005 nicht anwendbar ist (Sächs OVG vom 8.3.2005, OVG NRW vom 14.4.2005, BayVGH vom 10.5.2005, zitiert nach Asylmagazin, VG Karlsruhe a.a.O. und BVerwG InfAuslR 2006, 244 sowie Leitfaden BAMF Seite 11 aA VG Köln a.a.O., VG Frankfurt/Main InfAuslR 2006, 42).

a) Als derartig grundlegende Veränderungen der Sachlage sind nämlich zunächst die politischen Verhältnisse nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Afghanistan anzusehen, die zum Wegfall dieser früheren afghanischen Regierung als Verfolgersubjekt geführt haben.

b) Soweit eine politische Verfolgung durch die aktuelle Interimsregierung in Afghanistan befürchtet würde, was im Übrigen schon nicht ausreichend substantiiert wurde, hält das Gericht nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln bereits das Tatbestandsmerkmal der Staatlichkeit bzw. Quasistaatlichkeit im Sinne der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts für nicht gegeben, weil auch derzeit eine effektive Staatsgewalt als Subjekt der Verfolgung in Afghanistan (noch) nicht vorliegt. Dies folgt aus der Auskunftslage seit dem Sturz der Taliban bis heute.

Im Ergebnis kann daher derzeit und auf absehbare Zeit nicht davon ausgegangen werden, dass in Afghanistan landesweit die zur Bejahung einer politischen Verfolgung im Rechtssinn notwendige effektive, stabile und dauerhafte Staatsgewalt existiert. Allenfalls für den Bereich Kabuls kann derzeit und absehbar davon ausgegangen werden, dass die Übergangsregierung bzw. der Präsident mit Unterstützung der ISAF und den US-Einheiten eine Ordnungsmacht darstellen, denen mit Abstrichen Staatlichkeit im vorgenannten Sinne zugesprochen werden kann. Außerhalb Kabuls erfüllt auch keines der anderen Herrschaftsgebiete im Übrigen die hierfür erforderlichen Kriterien, insbesondere konnte auch die Nordallianz bzw. die betreffenden lokalen Machthaber in diesen Gebieten allenfalls ihre militärischen Strukturen festigen; von verwaltungsmäßigen oder gar staatsähnlichen Strukturen kann dagegen grundsätzlich keine Rede sein.

Zwar kommen auch Verfolgungsmaßnahmen Dritter als politische Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts in Betracht. Dies setzt allerdings voraus, dass sie dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind.

Nach diesen Grundsätzen ist nach Auswertung und Würdigung vorstehender Auskunftslage auch keine mittelbar staatliche Verfolgung darin zu erblicken, dass sie insbesondere Warlords oder früheren Mudjaheddin freie Hand ließe. Denn nach vorstehenden Ausführungen fehlt es schon an Staatlichkeit in Afghanistan, die als Anknüpfungspunkt auch für eine mittelbare Verfolgung vorliegen muss, und im Übrigen entspricht dies erkennbar auch nicht dem Eigenverständnis von Präsident Karzai. Ursache für ein möglicherweise nicht erfolgendes Einschreiten der Regierung gegen diese ist weiter ausschließlich eine insoweit fehlende Machtposition.

Aber auch falls von einer Staatsgewalt der Regierung Karzai jedenfalls in der Stadt und Provinz Kabul ausgegangen wird, ist das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen der Auffassung, dass von der derzeitigen Regierung in Afghanistan unter Präsident Karzai politisch Andersdenkenden jedenfalls nicht mit der hier maßgeblichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.

Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der Ziele und Grundsätze dieser bisherigen Interimsregierung und der neuen Regierung, die im Wesentlichen von der internationalen Gemeinschaft vorgegeben werden. Unverkennbar war zunächst das Streben nach ethnischer Aussöhnung.

Weiter ist nach § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG von dem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Nach Art. 1 C Nr.5 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention), der diese Vorschrift nachgebildet ist und der daher den entsprechenden Regelungsgehalt aufweist (VGH BW a.a.O.; OVG NRW B. v. 4.12.2003 Az.: 8 A 3766/03.A; weitergehend Marx InfAuslR 2005, 218), fällt eine Person u.a. nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Das Bedürfnis nach internationalem Schutz besteht dann nicht mehr fort (Salomons/Hruschka ZAR 2004, 386). Hierbei wird jedoch unterstellt, dass diese Bestimmung auf keinen Flüchtling Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann. Es werden in diesem Zusammenhang aber qualifizierte (vor)-verfolgungsbedingte Gründe vorausgesetzt, die eine Rückkehr objektiv unzumutbar erscheinen lassen (Kanein/Renner § 73 AsylVfG RdNr. 10; BVerwG InfAuslR 2006, 244). Es soll den besonderen Belastungen (persönlich) schwer Verfolgter Rechnung getragen werden. Diese Gründe sind aber von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG, nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG, zu unterscheiden (HessVGH InfAuslR 2003, 400), denn Schutz in diesem Sinne ist nur der Schutz vor Verfolgung, nicht vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit, der ggfs. zu Abschiebungsverboten, vgl. nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG, führen kann (BayVGH InfAuslR 2005, 43). Wirkt die Verfolgung etwa in einer feindlichen Haltung der Bevölkerung nach oder hat sie bleibende psychische Schäden verursacht, kann die Rückkehr unzumutbar sein (Kanein/Renner § 73 AsylVfG RdNr. 13), wenn auf Grund der früheren Verfolgung bei jetziger Rückkehr schlechthin das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet wäre (VG Gelsenkirchen vom 18.8.1998, zitiert nach asylis.bafl), beispielsweise bei auf Grund früherer Verfolgung erlittener physischer oder psychischer Schäden (VG Göttingen U. v. 27.4.2004, zitiert nach Asylmagazin), insbesondere heute noch andauernder Traumatisierung (VG Karlsruhe NVwZ 1998 Beilage Nr. 10 S. 111).

Ein derartiger Fall im vorgenannten Sinn liegt hier auf Grund des Vorbringens und der gesamten Sachlage unter Berücksichtigung obiger Ausführungen nach Überzeugung des Gerichts aber nicht vor.

2. Schließlich kann auch die vom Bundesamt getroffene negative Feststellung zu § 60 Abs. 1 AufenthG - in Betracht kommt hier allenfalls eine nichtstaatliche Verfolgung nach Satz 4 c) - rechtlich nicht beanstandet werden, da dem Kläger ein entsprechender Anspruch nicht zusteht.

Nach diesen Grundsätzen üben die Taleban ausgehend von der eindeutigen Auskunftslage und allgemeinkundig jedenfalls keine landesweite Verfolgung aus.