VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 20.12.2006 - 13a B 06.30703 - asyl.net: M9838
https://www.asyl.net/rsdb/M9838
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Anerkennungsrichtlinie, illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Machtwechsel, Baath, Sicherheitslage, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Terrorismus, Kriminalität, allgemeine Gefahr, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 33 Nr. 1; RL 2004/83/EG Art. 13; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 8; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz bzw. eine Anerkennung als Flüchtling im Sinn der genannten Bestimmungen liegen nicht vor. Für den Kläger besteht bei einer Rückkehr in den Irak keine abschiebungsschutzrelevante Gefährdung (mehr).

Zunächst ist festzuhalten, dass für den Kläger nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr besteht, im Irak wegen der Asylantragstellung im westlichen Ausland und/oder illegaler Ausreise politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

Wie den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zu entnehmen ist, hat das bisherige Regime Saddam Husseins durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren.

Insgesamt hat sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert. Die Menschenrechtslage ist prekär, weil der Staat den Schutz seiner Bürger nicht ausreichend gewährleisten kann (vgl. Lagebericht vom 29.6.2006, S. 5). Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung irakischer Staatsangehöriger durch dessen Regime nicht mehr möglich.

Allerdings sind im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung.

Wie den genannten Informationsquellen, insbesondere den Lageberichten, weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG) sind die Übergriffe jedenfalls auf die Bevölkerungsgruppe der Rückkehrer nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung begründen könnten.

Auch aus § 60 Abs. 5 AufenthG lässt sich kein Bedürfnis für eine Schutzgewährung ableiten.

Der Kläger kann sich auch nicht auf die in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie geregelten Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes berufen. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt ist. Die hierfür zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsste (siehe hierzu Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006, S. 16; Hollmann, Asylmagazin 11/2006), liegt nach Auffassung des Gerichts jedenfalls nicht vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterialen ist nicht ableitbar, dass im Irak landesweit eine Bürgerkriegssituation gegeben wäre (vgl. zuletzt Lagebericht vom 29.6.2006, S. 14 f.). Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass in Bagdad und anderen Städten, vor allem im zentralirakischen sog. "sunnitischen Dreieck", zumindest bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, könnte dies nicht zu einem durch die unmittelbare Anwendung von Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie vermittelten Schutzanspruch führen, da ein innerirakisches Ausweichen in andere Landesteile möglich und damit interner Schutz im Sinn von Art. 8 der Richtlinie gewährleistet ist (siehe hierzu Lagebericht vom 29.6.2006, S. 14 ff.). Damit bedarf es auch keiner Entscheidung zu der Frage, welche Bedeutung allgemeinen mit dem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehenden Gefahren zukommt, insbesondere, ob eine vergleichbaren Schutz bietende Erlasslage der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entgegensteht (siehe hierzu Erwägungsgrund 26 der Richtlinie).

Die allgemein prekäre Situation im Irak vermag die Zuerkennung von Abschiebungsschutz ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az. IA2-2084.2013) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf Weiteres um sechs Monate verlängert werden. Demzufolge ist (noch) davon auszugehen, dass auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin grundsätzlich ausgesetzt bleibt (vgl. u.a. Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 30.4.2004). Damit liegt nach wie vor eine Erlasslage im Sinn des § 60a AufenthG vor, welche dem betroffen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt, so dass dem Kläger nicht zusätzlich des Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung, etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, bedarf (zu § 53 Abs. 6 AuslG vgl. BVerwG vom 12.7.2001 BVerwGE 114, 379 = NVwZ 2001, 1420).

Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 2006 (BVerwG 1 B 60.06/1 C 21.06 Rn. 4) besteht in der vorliegenden Fallkonstellation auch keine durch verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu vermeidende sonstige "Schutzlücke", weil es für den vergleichbar wirksamen Schutz nur auf die Schutzwirkung der Duldung bzw. eines ministeriellen Erlasses im Hinblick auf eine drohende Abschiebung ankommt, nicht aber auf die Folgewirkungen im Hinblick auf eine Verfestigung des Aufenthaltsrechts wie etwa einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Die durch das Aufenthaltsgesetz eingeführte bessere aufenthaltsrechtliche Stellung des Betroffenen bei Bestehen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG, die im Regelfall zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG führt und gegebenenfalls später eine noch weitergehende Verfestigung des Aufenthalts zur Folge haben kann, gehört nicht zu dem verfassungsrechtlich mit Rücksicht auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG gebotenen Schutz vor Abschiebung in eine unmittelbar drohende extreme Gefahrensituation.