OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.11.2006 - 2 M 296/06 - asyl.net: M9862
https://www.asyl.net/rsdb/M9862
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Kinder, Recht auf Wiederkehr, besondere Härte, Ausreisefrist, Ermessen, Nachschieben von Gründen, Beschwerde, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 34 Abs. 1; AufenthG § 37 Abs. 1; AufenthG § 37 Abs. 2; AufenthG § 50 Abs. 2; AufenthG § 59 Abs. 1; VwGO § 114 S. 2
Auszüge:

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet, soweit sie sich gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die im Bescheid vom 17.08.2006 ausgesprochene Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung wendet.

Zu Recht macht der Antragsgegner geltend, dass die Voraussetzungen für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht vorliegen. Nach § 34 Abs. 1 AufenthG ist die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu verlängern, solange ein personensorgeberechtigter Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt oder das Kind im Falle seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte.

Die Antragsteller hätten im Fall ihrer Ausreise auch kein Recht auf Wiederkehr nach § 37 AufenthG. Nur die elfjährige Antragstellerin zu 1 und der neunjährige Antragsteller zu 2 halten sich mehr als 8 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf, und nur die Antragstellerin zu 1 hat bereits sechs Jahre lang im Bundesgebiet eine Schule besucht. Die Altersgrenze des § 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG von 15 Jahren halten sämtliche Antragsteller nicht ein.

Zwar kann nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Vermeidung einer besonderen Härte von den in Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 bezeichneten Voraussetzungen abgewichen werden. Liegt eine solche Härte vor, kann die Aufenthaltserlaubnis des Kindes nach § 34 Abs. 1 verlängert werden (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 34 AufenthG RdNr. 6). Dies ist bei den Antragstellern aber nicht der Fall.

Die Ausnahmeregelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 trägt dem Umstand Rechnung, dass klare zeitliche Grenzen wie die in Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bestimmten den Nachteil haben, dass sie in der Lebenswirklichkeit nicht immer zu angemessenen Ergebnissen führen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs zur inhaltsgleichen Vorschrift des § 16 Abs. 2 AuslG, BT-Drucks. 11/6321, S. 59). Die Feststellung einer besonderen Härte im Sinne dieser Regelung erfordert den Vergleich des konkreten Einzelfalls mit dem gesetzlichen Typus des Wiederkehrers, wie er in § 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG gekennzeichnet ist, da es Zweck der Härteklausel ist, auch in den vom Gesetz wegen seiner generell-abstrakten Regelung nicht erfassten, der gesetzlichen Wertung aber entsprechenden Fällen eine Wiederkehrmöglichkeit zu eröffnen (BVerwG, Urt. v. 19.03.2002 - 1 C 19.01 -, BVerwGE 116, 128 [134 ff.], zu § 16 AuslG). Maßstabsbildend für den gesetzlichen Typus des Wiederkehrers ist zum einen eine während des Voraufenthalts in Deutschland erreichte Aufenthaltsverfestigung und zum anderen eine Integration sowie Integrationsfähigkeit; entspricht der Ausländer dem gesetzlichen Leitbild in diesen beiden Beziehungen, wäre es unter Beachtung des Gesetzeszwecks in besonderer Weise unbillig, ihm das Wiederkehrrecht vorzuenthalten (BVerwG, Urt. v. 19.03.2002, a. a. O.). Der danach für die Feststellung einer besonderen Härte geforderte Vergleich mit dem gesetzlichen Typus des Wiederkehrers ist anhand einer Gesamtbetrachtung aller hierfür erheblichen Umstände des Einzelfalls durchzuführen; hierzu sind die Defizite bei der Erfüllung der Voraussetzungen des § 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG jeweils konkret zu bestimmen und im Rahmen der Gesamtbewertung unter Berücksichtigung des spezifischen Regelungszwecks der jeweils nicht erfüllten Voraussetzung ins Verhältnis zu anderen Umständen aus der Biographie des Ausländers zu setzen, die sonst in besonderer Weise für eine Aufenthaltsverfestigung, die erfolgte Integration oder die Integrationsfähigkeit sprechen (BVerwG, Urt. v. 19.03.2002, a. a. O.). Für die in § 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verlangte besondere Härte genügt nicht schon jede Härte, die deshalb entstehen kann, weil die Wiederkehrmöglichkeit nur für einen eingegrenzten Personenkreis geschaffen worden ist; es muss eine Besonderheit hinzukommen, durch die eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte hinausgehende Härte deswegen begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen Regelungsziel her den ausdrücklich erfassten Fällen annähernd gleicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.03.2002, a. a. O.). Eine solche besondere Härte kann beispielsweise daraus folgen, dass ein Ausländer, der Defizite bei der Erfüllung einzelner Voraussetzungen nach Absatz 1 durch eine anderweitige Form der Aufenthaltsverfestigung, Integration oder Integrationsfähigkeit bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ausgleichen oder gar übererfüllen kann, trotz der sich hieraus ergebenden "Gleichwertigkeit" mit dem Typus des Wiederkehrers dennoch von dem Anspruch auf Erteilung einer Wiederkehrerlaubnis ausgeschlossen wäre (BVerwG, Urt. v. 19.03.2002, a. a. O.).

Den Typus eines Wiederkehrers erfüllen die Antragsteller indes nicht. Sie liegen nicht nur geringfügig unter dem in § 37 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG genannten Mindestalter von 15 Jahren. Der Gesetzgeber geht mit den in dieser Regelung bezeichneten Altersgrenzen davon aus, dass der Typus des Wiederkehrers Jugendlicher oder Heranwachsender ist (vgl. VGH BW, Urt. v. 30.08.1993 - 1 S 1044/93 -, VGH BW-Ls 1993, Beilage 11, B5). In diesem Altersabschnitt ist die Entwicklung des in Deutschland aufgewachsenen Ausländers in der Regel noch nicht abgeschlossen, häufig aber bereits so weit fortgeschritten, dass er faktisch zu einem Inländer geworden ist und ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, häufig nicht mehr zumutbar erscheint (vgl. hierzu auch BVerwG, Urt. v. 29.09.1998 - 1 C 8.96 -, InfAuslR 1999, 54). Das Defizit des Nichterreichens der Altersgrenze von 15 Jahren können die Antragsteller auch nicht durch die Übererfüllung der in § 37 Abs. 1 Nr. 1 vorausgesetzten Merkmale ausgleichen. Die erforderliche Mindestdauer des rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet von 8 Jahren überschreitet die Antragstellerin zu 1 lediglich um etwa zwei Jahre und der Antragsteller zu 2 nur um etwa 15 Monate. Die erforderliche Mindestdauer des Schulbesuchs in der Bundesrepublik Deutschland von 6 Jahren hat - wie schon dargelegt - (nur) die Antragstellerin zu 1 gerade erst erreicht.

Die Beschwerde hat hingegen keinen Erfolg, soweit der Antragsgegner die Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung auch in Bezug auf die im angefochtenen Bescheid gesetzte Ausreisefrist begehrt.

Das Verwaltungsgericht hat mit Recht angenommen, dass eine Ausreisefrist von weniger als einer Woche in aller Regel nicht genügt (vgl. zu den von der Behörde bei der Bemessung der Ausreisefrist zu beachtenden Kriterien: BVerwG, Urt. v. 22.12.1997 - 1 C 14.96 -, InfAuslR 1998, 217). Die vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte rechtfertigen keine abweichende Beurteilung.

Der Senat ist indes gehindert, erst im Beschwerdeverfahren geltend gemachte Erwägungen bei der Ermessensprüfung zu berücksichtigen. Zwar erlaubt § 114 Satz 2 VwGO, dass die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren ergänzt. Aus § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO, der verlangt, dass sich die Beschwerde mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt, ergibt sich jedoch im vorläufigen Rechtsschutz eine Beschränkung auf das erstinstanzliche Verfahren. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass die Beschwerde mit "neuem Vorbringen" insoweit nicht geführt werden kann, als damit eine Änderung der Sach-, Rechts- oder Verfahrenslage dargetan wird (OVG LSA, Beschl. v. 31.07.2003 - 2 M 337/03 -; Beschl. v. 01.08.2003 - 2 M 339/03 -; so auch Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, Kommentar zur VwGO, 2. Aufl., § 146 RdNr. 36; a. A. wohl VGH BW, Beschl. v. 12.04.2002 - 7 S 653/02 -, NVwZ 2002, 883 [884]).

Unabhängig davon dürfte auch in Ansehung der im vorangegangenen und später aufgehobenen Bescheid vom 02.06.2006 bereits verfügten Ausreisefrist bis zum 31.07.2006 die Frist von nur sechs Tagen zu kurz bemessen sein. Nachdem das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16.08.2006 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen diesen Bescheid angeordnet hatte und die darin gesetzte Frist abgelaufen war, mussten die Antragstellerinnen nicht zwingend davon ausgehen, dass von ihnen eine Ausreise innerhalb kürzester Frist verlangt würde. Auch der Umstand, dass die Abschiebung der Antragsteller bereits für den 24.08.2006 vorgesehen war, rechtfertigt eine solche Verfahrensweise angesichts des langjährigen Aufenthalts der Antragsteller im Bundesgebiet nicht. Die Ausreisefrist soll es dem Ausländer unter anderem ermöglichen, einer Abschiebung durch eine freiwillige Ausreise zuvorzukommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.12.1997, a. a. O.).