VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2006 - A 5 K 11379/05 - asyl.net: M9874
https://www.asyl.net/rsdb/M9874
Leitsatz:
Schlagwörter: Rücknahme, Flüchtlingsanerkennung, Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz, Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, Bundesamt, Jahresfrist, Fristbeginn, Anhörung, Unterbrechung, Hemmung, zweite Anhörung, Ermächtigungsgrundlage
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 5; AsylVfG § 73 Abs. 2; AsylVfG § 48 Abs. 4; AsylVfG § 74 ABs. 1; AsylVfG § 76 Abs. 1; AsylVfG § 77 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 1
Auszüge:

Es handelt sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit (Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz, vgl. §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 1, 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 und 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Streitigkeiten in diesem Sinne liegen in erster Linie dann vor, wenn die angegriffene Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ihre Grundlage im Asylverfahrensgesetz hat. Dass eine Entscheidung sich auch auf andere Rechtsgrundlagen stützt, grenzt sie aus dem Kreis der Entscheidungen nach dem Asylverfahrensgesetz nicht aus (etwa Entscheidungen zu § 53 AuslG und § 60 AufenthG, vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.03.1996 - 9 B 714.95 -, AuAS 1996, 186 = EZAR 633 Nr. 27). Nr. 1 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 01.06.2005 (Rücknahme der mit Bescheid des damaligen Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge v. 15.10.2002 getroffenen Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen) ist auf § 48 VwVfG gestützt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80 = NVwZ 2001, 335) verdrängt die spezielle Regelung des § 73 AsylVfG zum Widerruf und zur Rücknahme einer Asylanerkennung sowie der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG/§ 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, nicht die Rücknahmevorschrift des allgemeinen Verwaltungsrechts nach § 48 VwVfG. Über Widerruf und Rücknahme entscheidet der Leiter des Bundesamts oder ein von ihm beauftragter Bediensteter (§ 73 Abs. 4 S. 1 AsylVfG). Versteht man diese Zuständigkeitsregelung so, dass von ihr nur die auf § 73 AsylVfG gestützten Entscheidungen erfasst werden, richtete sich die Zuständigkeit für eine auf § 48 Abs. VwVfG beruhende Rücknahme nach § 48 Abs. 5 VwVfG. Hiernach entscheidet über die Rücknahme nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts die nach § 3 VwVfG zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist. Die Ausführung des Asylverfahrensgesetzes erfolgt in bundeseigener Verwaltung (Art. 86 GG) durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (§ 5 AsylVfG). Dies hat zur Folge, dass auch bei Anwendung des § 48 Abs. 5 VwVfG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig ist.

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 01.06.2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die verfügte Rücknahme (Nr. 1 des Bescheids) ist wegen Versäumung der Jahresfrist (§ 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG) rechtswidrig.

§ 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG findet Anwendung, wenn die Behörde nachträglich erkennt, dass sie den beim Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt und deswegen rechtswidrig entschieden hat. Die Frist beginnt zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.12.1984 - Gr. Sen.1, 2/84 -, BVerwGE 70, 356 = NJW 1985, 819). Aus dem Vermerk des Referats 421 des damaligen Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15.05.2003 an dessen Vizepräsident ergibt sich die Erkenntnis des Bundesamts, der Bescheid vom 15.10.2002 sei wegen Nichtbeachtung des § 51 Abs. 3 S. 1 Alternative 2 AuslG rechtswidrig. Hierauf hat der Vizepräsident am 20.05.2003 die Einleitung eines Rücknahmeverfahrens gemäß § 48 VwVfG verfügt. Diese Erkenntnis hat jedoch noch nicht den Beginn der Jahresfrist ausgelöst. Sie wurde erst am 26.11.2003 im Zusammenhang mit der - ersten - Anhörung des Klägers aufgrund des Schreibens des damaligen Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27.10.2003 und der hierauf erfolgten Äußerung des Klägers mit Schriftsatz seines damaligen Verfahrensbevollmächtigten vom 26.11.2003, beim Bundesamt eingegangen am selben Tag, ausgelöst (vgl. zur maßgebenden Durchführung eines Anhörungsverfahrens für den Fristbeginn: BVerwG, Urt. v. 20.09.2001 - 7 C 6/01 -, NVwZ 2002, 485 = Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 103). Die am 26.11.2003 in Gang gesetzte Jahresfrist endete daher am 26.11.2004 (§ 31 Abs. 1 VwVfG, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alternative 1 BGB). Die erst mit Bescheid vom 01.06.2005 verfügte Rücknahme ist daher verfristet.

Durch die - zweite - Anhörung des Klägers mit Schreiben des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 09.11.2004 ist die Jahresfrist weder unterbrochen noch gehemmt worden. Konsequenz der Ausgestaltung der Rücknahmefrist als Entscheidungsfrist ist freilich, dass es die Behörde in der Hand hat, den Beginn der Frist durch eine Verzögerung des Anhörungsverfahrens hinauszuschieben. Ein solches Verhalten kann allerdings zur Verwirkung des Rechts auf Rücknahme führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.12.1999 - 7 C 42.98 -, BVerwGE 110, 26 = NJW 2000, 1512). Unbeschadet der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG kommt eine Verwirkung der Rücknahmebefugnis nach den Grundsätzen des allgemeinen Rechtsprinzips von Treu und Glauben in Betracht. Vorliegend sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge habe bereits vor Ablauf der Jahresfrist gegenüber dem Kläger zu erkennen gegeben, es wolle eine ihm an sich zustehende Rücknahmebefugnis im Hinblick auf eine beim Kläger entstandene, als schützenswert angesehene und auch tatsächlich schützenswerte Vertrauensposition nicht ausüben.

Die zweite Anhörung des Klägers mit Schreiben des Bundesamts vom 09.11.2004 erfolgte zur Klarstellung, dass das Rücknahmeverfahren nach § 48 VwVfG eingeleitet wurde; die erste Anhörung des Klägers mit Schreiben des Bundesamts vom 27.10.2003 enthielt die - rechtsirrtümliche - Mitteilung, es sei am 20.05.2003 ein Rücknahmeverfahren nach § 73 AsylVfG eingeleitet worden. Mit der zweiten Anhörung hat das Bundesamt dem Kläger unter Würdigung der nach § 48 Abs. 1 VwVfG in Betracht kommenden Ermessensausübung ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, Gesichtspunkte für eine Ermessensentscheidung zugunsten des Klägers geltend zu machen. Diese im Sinne des Klägers liegende Absicht des Bundesamts darf aber den Blick nicht darauf verstellen, dass es nicht im Belieben der Behörde liegt, Beginn und Ende der Jahresfrist unter Außerachtlassung von Sinn und Zweck dieser Frist zu bestimmen. Diese Frist dient dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und vor allem auch dem Vertrauensschutz (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.1982 - 8 C 122.81 -, BVerwGE 66, 61; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 RdNr. 146). Eine Unterbrechung oder Hemmung der am 26.11.2003 im Zusammenhang mit der ersten Anhörung des Klägers durch das Schreiben des Bundesamts vom 27.10.2003 begonnenen Jahresfrist lässt sich nicht etwa daraus herleiten, bei dieser Anhörung habe es sich um keine den Anforderungen des § 28 Abs. 1 VwVfG entsprechenden Anhörung gehandelt. Hiernach ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Obwohl die Anhörung nur zu "Tatsachen" ausdrücklich angeordnet ist, wird die Behörde die Gelegenheit zur Anhörung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen in der Regel mit der Mitteilung der nach ihrer Einschätzung maßgeblichen wesentlichen Rechtsgrundlagen für den beabsichtigten belastenden Verwaltungsakt zu verbinden haben (vgl. Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 28 RdNr. 39). Eine unterlassene oder bei einer ex post-Betrachtung unzutreffend angegebene Rechtsgrundlage macht die Anhörung unter dem Gesichtspunkt des § 28 VwVfG nicht automatisch und zwangsläufig fehlerhaft, sofern die falsche Rechtsgrundlage dem angekündigten Verwaltungsakt nicht eine grundsätzlich andere rechtliche und/oder tatsächliche Bedeutung verleiht (vgl. Bonk/Kallerhoff, a.a.O.). Dies trifft vorliegend nicht zu. Sowohl die Anhörung mit Schreiben des Bundesamts vom 27.10.2003 mit dem - rechtsirrtümlichen - Hinweis auf ein am 20.05.2003 eingeleitetes Rücknahmeverfahren nach § 73 AsylVfG, als auch das Schreiben des Bundesamts vom 09.11.2004 mit dem Hinweis auf eine als Ermessensentscheidung in Betracht kommende Rücknahme nach § 48 VwVfG bringen die Zielrichtung des Bundesamts deutlich zum Ausdruck: Rücknahme der mit Bescheid des Bundesamts vom 15.10.2002 getroffenen Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG wegen einer Nichtbeachtung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 3 AuslG im Hinblick auf die Mitgliedschaft des Klägers in der kriminellen Vereinigung "Mouwadine".