VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 23.10.2006 - AN 15 K 06.30435 - asyl.net: M9881
https://www.asyl.net/rsdb/M9881
Leitsatz:
Schlagwörter: Aserbaidschan, Wehrdienst, Misshandlungen, Christen (evangelische), Korruption, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, alternativer Dienst, Zivildienst, Auslandsaufenthalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Soweit der Kläger begehrt, Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides, soweit er ihn betrifft, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bei ihm vorliegen, ist die Klage begründet.

Dem Kläger droht jedoch bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan im Rahmen des ihm dort bevorstehenden Wehrdienstes eine Behandlung, die als politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG zu qualifizieren ist.

So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan tatsächlich den Wehrdienst in unmittelbarer Zukunft antreten müsste. Zwar ist der Kläger bislang noch nicht gemustert. Auch ist bisher der Jahrgang des Klägers noch nicht aufgerufen, sondern nur der vom Vorjahr. Weiter verkennt das Gericht nicht, dass gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG die im Zeitpunkt der Entscheidung herrschende Sach- und Rechtslage zu Grunde zu legen ist. Doch wäre bei überschlägiger Berechnung der (Asyl-)Verfahrensdauer mit einer Rückkehr des Klägers nach Aserbaidschan sowieso erst im Jahr 2007 zu rechnen, wo der Jahrgang des Klägers dann zur Einberufung anstehen würde. Der Kläger müsste also bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan tatsächlich in naher Zukunft mit Musterung und Einberufung rechnen, denn die erste Musterung erfolgt gewöhnlich bereits im Alter von 16 Jahren, die Einziehung mit 18 Jahren (so das Transkaukasus-Institut Marburg, im Gutachten vom 20. August 2006; im Folgenden zitiert als TKI-Gutachten). Im Falle des Klägers wäre das Einziehungsrisiko auch besonders hoch, unabhängig davon, ob er außerhalb oder während eines Einziehungszeitraums (wo das Einziehungsrisiko grundsätzlich erhöht ist), nach Aserbaidschan einreisen würde, weil Abschiebungen nach Aserbaidschan normalerweise per Flugzeug durchgeführt werden müssen und nach dem Gutachten des TKI (S. 9) Flughafen-Kontrollen ohne Vorlage des Militärausweises oder sehr hohe spontane Zahlungen überhaupt nicht passierbar sind. Zu "sehr hohen" Spontanzahlungen aber wird der Kläger nicht im Stande sein, da die gesamte Familie mittellos ist, was sich aus deren Angaben im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens ergibt. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan über die Flughafenkontrolle erfasst und den Militärbehörden nicht verborgen bliebe.

Nichts anderes ergibt sich im Hinblick darauf, dass in Aserbaidschan, einem Land mit sehr hoher Korruption (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Aserbaidschan, vom 23.3.2006), ein Entziehen vom Wehrdienst durch Bestechung durchaus möglich und gängig ist. Denn in Anbetracht der Tatsache, dass der 17-jährige Kläger keine eigenen Einkünfte hat und seine Familie mittellos ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die mit ca. 2000 US-Dollar bezifferte Summe (vgl. die im TKI-Gutachten aufgezählten von verschiedenen Quellen gemachten Angaben zur Höhe des diesbezüglichen Bestechungsgelds auf S. 4) vom Kläger oder seiner Familie aufgebracht werden könnte. Dass der Kläger anderweitig an diese Summe gelangen könnte, ist auch nicht ersichtlich.

Weiterhin kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger ein so genannter alternativer Dienst zum Wehrdienst zur Verfügung stünde, denn der verfassungsmäßig seit Jahren vorgesehene Ersatzdienst ist immer noch nicht gesetzlich geregelt, auch ist eine solche gesetzliche Regelung nicht in Sicht. Auch wenn eine erhebliche Zahl von jungen Männern derzeit den Wehrdienst durch Senden einer entsprechenden Willenserklärung an das jeweilig zuständige Militärkommissariat verweigert und häufig dann wohl faktisch von einer Einziehung abgesehen wurde, hat das Verfassungsgericht im Februar 2005 entschieden, dass kein Recht auf einen Alternativdienst besteht, so lange kein Alternativdienstgesetz vorhanden ist (vgl. TKI-Gutachten, S. 3).

Das Gericht ist weiterhin zum Ergebnis gelangt, dass der Wehrdienst in Aserbaidschan grundsätzlich gesundheitsgefährdend und teilweise lebensgefährlich ist. So ist im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. März 2006 ausgeführt, dass der Wehrdienst bei der Bevölkerung und den Wehrpflichtigen auf Grund schlechter Bedingungen, Anschuldigungen von Menschenrechtsverletzungen und grassierender Korruption in der Armee äußerst unbeliebt ist, dass allerdings seit der in der zweiten Jahreshälfte 2001 berichteten Häufung von Selbstmorden in der Armee zu derartigen Vorkommnissen in der aserbaidschanischen Presse kaum noch berichtet wurde. Im TKI-Gutachten, an dessen Richtigkeit zu zweifeln das Gericht keinen Anlass hat, wird betont, dass die Lebensbedingungen beim Militär weitaus beschwerlicher als etwa in der Bundesrepublik Deutschland seien und dass beispielsweise die "Revolte" von etwa 2000 Kadetten der Militärakademie ab 3. September 2002 auch damit begründet wurde, dass die Kadetten selbst im Winter keinen Strom und kein Gas zur Verfügung hatten und nur eine Stunde täglich fließendes Wasser, dass der armselige Sold, die Korruption, die Übergriffe und die hohe Zahl von Toten außerhalb von Kampfeinsätzen untragbar seien. Im Übrigen belegt der Gutachter, dass es gängige, nicht selten tödliche Misshandlungen der Wehrdienstleistenden gibt, in dem man diese lange der brennenden Sonne ohne Wasser aussetzt oder dem Frost, ohne Zelte oder Winterkleidung und ohne Nahrung. Eine weitere Gefährdung von Wehrdienstleistenden liegt nach dem TKI-Gutachten darin an der Front von der armenischen Seite gefangen genommen zu werden.

Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass sich die Situation der aserbaidschanischen Wehrdienstleistenden auch nicht dadurch beruhigt hat, dass das jüngere Offizierscorps inzwischen von Offizieren der Republik Türkei ausgebildet wird.

Unter Berücksichtigung des Sachvortrags des Klägers und der Auskunftslage muss weiter davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Ableistung des Wehrdienstes in Aserbaidschan eine noch schwächere Position als andere Wehrdienstleistende hätte und in Anknüpfung und wegen für ihn unveränderlicher Merkmale zusätzlich und erhöht gefährdet wäre. So hätte er als evangelischer Christ bei Bekanntwerden - womit nach Ansicht des Gerichts zu rechnen ist - gewiss eine Außenseiterposition. Das Gericht teilt die Auffassung des TKI-Gutachters, dass der Kläger jedoch nicht bereits allein wegen seines Glaubens automatisch zu einem "missliebigen" Außenseiter wird, weil der religiöse Glaube in der Republik Aserbaidschan nur eine geringe gesellschaftliche Bedeutung hat, da sich die meisten Aserbaidschaner auf ihre Religion nicht im alltäglichen Leben fortlaufend beziehen, sondern nur zu bestimmten Anlässen, wie Geburt, Heirat, Tod. Damit in Einklang steht die Aussage des Auswärtigen Amtes in der Stellungnahme vom 15. Juni 2006, dass nicht bestätigt werden könne, dass dem Kläger "aufgrund seiner christlichen Religion" Benachteiligungen entstehen würden. Allerdings würde - so das TKI-Gutachten, dem das Gericht folgt - bei Bekanntwerden der Tatsache, dass der Kläger Angehöriger einer evangelisch-lutherischen Kirche geworden ist, dies von solchen Nationalisten, die meinen, dass zu einem ethnischen Aserbaidschaner und Türken gehöre, dass er ein Muslim ist und nicht ein "westlicher" Christ, dies durchaus als "unaserbaidschanisch" angesehen werden. Derartige Nationalisten würden sich daran stören, dass ein die Ethnie mitbestimmendes Merkmal nicht gegeben sei, weil die Person sich freiwillig vom "Aserbaidschanertum" und "Türkentum" abgekehrt habe. Demgegenüber gibt es laut TKI-Gutachten allerdings auch Nationalisten für die die Religion eines ethnischen Aserbaidschaners und Türken ohne Bedeutung für dessen Ethnie ist.

Zwar ist nicht exakt abschätzbar, wie viele Nationalisten der ersten Art in der künftigen Einheit des Klägers sein werden, doch geht das Gericht davon aus, dass die zuerst genannten eindeutig überwiegen, da sich höhere Schichten dem Wehrdienst weitgehend entziehen (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. März 2006, sowie das zum Verfahren eingeholte TKI-Gutachten) und der Wehrdienst somit mehrheitlich von armen und einfachen und erwartbar (so TKI-Gutachten S. 12) erheblich überdurchschnittlich nationalistischen jungen Männern abgeleistet wird. Bereits dies genügt aber, um eine unangenehme Außenseiterposition des Klägers zu begründen und die allgemeine Gefahr von körperlichen Übergriffen (in Form des militärisch nicht begründeten Aussetzens dem Hunger, Durst, der Hitze und dem Beschuss und Minen, daneben aber auch in Form unmittelbarer körperlicher Übergriffe wie Schläge, "Rekruten-Schinden", Folter und sogar Tötung) erheblich zu erhöhen. Weiter würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer unangenehmen Außenseiterstellung des Klägers auch sein langer Auslandsaufenthalt beitragen, zumal er vermutlich normabweichend bei der Einreise zum Wehrdienst herangezogen werden würde. Des Weiteren folgt das Gericht dem TKI-Gutachten wegen der insgesamt sehr plausiblen Begründung darin, dass für den Kläger als Außenseiter auch noch eine "anlassbedingt" erhöhte Gefährdung besteht. So wird im TKI-Gutachten ausgeführt, dass der Kläger, würde keine Bestechung bezahlt werden (wovon hier ausgegangen werden muss), seinen Wehrdienst bei einer besonders "gefährlichen" Einheit abgeleistet werden müsste.

Lediglich ergänzend sei darauf verwiesen, dass diese Bewertung auch nicht im Widerspruch zur Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. Juni 2006 steht, da dort nur darauf verwiesen wird, dass dem Auswärtigen Amt keine Vorfälle "bekannt" seien, dass Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften Nachteilen oder körperlichen Übergriffen während ihres Wehrdienstes ausgesetzt waren. Dies aber schließt nicht aus, dass im Einzelfall des Klägers aus den genannten Gründen Übergriffe zu erwarten sind.