VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 12.03.2007 - 4 K 1500/05.A - asyl.net: M9902
https://www.asyl.net/rsdb/M9902
Leitsatz:
Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Sicherheitslage, Narben, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Colombo, Zwangrekrutierung, Kindersoldaten, interne Fluchtalternative, LTTE, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Festnahme, Kostenrecht, Kosten, Kostenentscheidung, teilweise Klagerücknahme, Streitwert, Flüchtlingsanerkennung
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 A Nr. 2; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10; VwGO § 155 Abs. 2; VwGO § 155 Abs. 1 S. 3; RVG § 30
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf Durchführung eines Folgeverfahrens (1.) sowie auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (2.).

1. Die geänderte Sachlage ergibt sich insbesondere aus dem Geschehensverlauf der sich seit 2005 zu verzeichnenden Verschlechterung der Sicherheitslage in Sri Lanka sowie der Tatsache, dass der Kläger im Dezember 2005 in Deutschland Opfer eines tätlichen Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit geworden ist und belegtermaßen hiervon deutlich sichtbare Narben am Kopf davongetragen hat.

2. Die Erfolgsprüfung führt im Falle des Klägers zu dem Ergebnis, dass er schutzbedürftig ist und es deshalb verboten ist, ihn nach Sri Lanka abzuschieben.

Dem Kläger droht nach den Erkenntnissen des Gerichts bei Rückkehr nach Sri Lanka mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine vom srilankischen Staat ausgehende Verfolgung und damit zugleich eine erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung i.S. der in Art. 9 Abs. 1 lit. a der Qualifikationsrichtlinie in Bezug genommenen grundlegenden Menschenrechte (2.3.). Dies folgt für den Kläger aus dem Vorliegen individueller Besonderheiten - der auffälligen Narben am Kopf (2.2.) sowie der aktuell dramatisch verschlechterten Sicherheitslage (2.1.).

2.1. Die allgemeine Sicherheitslage in Sri Lanka stellt sich nach Auswertung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie folgt dar:

a. Nach den Lageberichten Sri Lanka vom 10.12.2005, 27.07.2006 und 11.12.2006 des Auswärtigen Amtes - AA - sowie dessen Ad-hoc-Information über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Sri Lanka vom 31.01.2007 ergibt sich folgendes: Seit der Eskalation der Gewalt im November 2005 verschlechterte sich die Menschenrechtslage drastisch, besonders im Norden und Osten des Landes. Hinzu kamen zahlreiche Menschenrechtsverstöße durch Polizei und Sicherheitskräfte im Süden des Landes.

Trotz vermehrter polizeilicher Kontrollen der tamilischen Bevölkerung in Colombo sowie Fahrzeug- und Wohnungsdurchsuchungen war die tamilische Bevölkerung im Regierungsgebiet noch bis ins Jahr 2006 hinein gut integriert und konnte am öffentlichen Leben weitgehend unbehindert teilnehmen. Allerdings kam es in jüngster Vergangenheit zu einer Vielzahl von Festnahmen von Tamilen, insbesondere wenn sie sich bei Personenkontrollen durch Armee oder Polizei nicht ausweisen konnten und deshalb zur Identitätsüberprüfung in Polizeigewahrsam genommen wurden. Die meisten der derart Festgenommenen wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. In Colombo gibt es über die ganze Stadt verteilt Kontrollpunkte, an denen verdächtige Personen - in erster Linie Tamilen - angehalten, kontrolliert und bei Vorliegen auch nur vager Verdachtsmomente willkürlich und ohne Rechtsgrundlage festgenommen werden.

Im Dezember 2006 wurden teilweise die repressiven Anti-Terror-Gesetze wieder eingeführt.

b. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in der Dokumentation "Asylsuchende aus Sri Lanka" vom 01.02.2007 unter Hinweis auf weitere Quellen wie folgt:

Die LTTE wie auch die von staatlicher Seite unterstützte Karuna-Gruppe rekrutieren weiterhin in den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten Kinder und Jugendliche auch unter Zwang für ihre Streitkräfte. Personen, die für die LTTE tätig waren, LTTE-Deserteure und der Spionage für die LTTE verdächtige Personen müssen mit Verfolgung, Verhaftung, Folter bis hin zu extralegaler Tötung seitens srilankischer Sicherheitskräfte rechnen.

c. Der UNHCR ergänzt in seiner Stellungnahme von Januar 2007 zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka:

Die Sicherheitslage hat sich seit Januar 2006 drastisch verschlechtert. Beide Konfliktparteien beziehen bewusst die Zivilbevölkerung in den bewaffneten Konflikt mit ein. Es werden Vertreibungen in großem Umfang festgestellt. Vor zielgerichteter Gewalt und Menschenrechtsverletzungen der LTTE gibt es in Anbetracht der Reichweite der Verfolgungsmaßnahmen der LTTE und des Unvermögens der staatlichen Behörden, Schutz zu garantieren, keine realistische interne Fluchtalternative. Gleiches gilt für Personen, die vor zielgerichteter Gewalt und Menschenrechtsverletzungen seitens der staatlichen Behörden oder paramilitärischer Gruppen fliehen.

2.2. Der Kläger hat nach dem vorgelegten Attest des Dr. med. ... vom 01.03.2006 durch einen Ende 2005 erlittenen Angriff, der operativ versorgt werden musste, mehrere Narben am Kopf zurückbehalten. Die Kammer konnte sich hiervon in der mündlichen Verhandlung überzeugen. Die Narben sind nicht zu übersehen. Das Auswärtige Amt hat aufgrund der Nachfrage des Gerichts mit Schreiben vom 08.02.2007 mitgeteilt, dass eine Verfolgung aufgrund des Vorhandenseins von Narben nicht auszuschließen sei, ohne eine weitere Differenzierung hinsichtlich der Art der Narben und der Stelle ihres Vorhandenseins am Körper vorzunehmen.

2.3. Übertragen auf den Fall des Klägers bedeutet die deutlich verschlechterte Sicherheitslage in Sri Lanka im Zusammentreffen mit seiner individuellen Lage, die gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. c der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen ist, dass ihm als Mann tamilischer Volkszugehörigkeit, der von seinem Alter her von den Sicherheitskräften in die Nähe der kämpfenden LTTE gebracht werden könnte, weil er deutlich sichtbare Narben am Kopf trägt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht.

Es ist danach beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei Einreise über den Flughafen Colombo den Sicherheitskräften bereits wegen seiner Narben auffällt. Weil er darüber hinaus keinen Pass besitzt, dürfte er zunächst festgenommen oder zumindest einer eingehenden Überprüfung seiner Person unterzogen werden. Wie lange er festgesetzt würde bzw. eine "Überprüfung" dauern würde, ist ungewiss. Angesichts des Zusammenbruchs jeglicher Rechtsschutzmöglichkeiten stellt ein solcher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartender Eingriff in seine Freiheit und möglicherweise in sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung i.S.d. Kapitel II und III der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK dar. Angesichts der ausschließlichen Möglichkeit einer Rückführung über Colombo, aber auch angesichts der im ganzen Land und auf den Ausfallstraßen von Colombo bestehenden zahlreichen Kontrollstellen mit intensiver Personenüberprüfung ergibt sich aufgrund der oben dargestellten derzeitigen Verhältnisse in Sri Lanka auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Obwohl der Kläger den auf die Asylanerkennung nach Art. 16a GG gerichteten Teil der Klage zurückgenommen hat, muss die Beklagte die gesamten Verfahrenskosten tragen. Die Kostenregelung des § 155 Abs. 2 VwGO, die vorsieht, dass derjenige, der eine Klage zurücknimmt, die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, wirkt sich bei der vorliegenden teilweisen Klagrücknahme gemäß § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO nicht aus (vgl. für den Fall der übereinstimmenden teilweisen Hauptsacheerledigungserklärung bezüglich Abschiebungsandrohung und Klage auf Aufenthaltserlaubnis BVerwG, Urt. v. 29.11.1988 - 1 C 75/86 - = NVwZ 1989, 765, 768 m.w.N.). Grundsätzlich gilt § 155 Abs. 2 VwGO für den von der Rücknahme betroffenen Teil. Vorliegend führt dies jedoch nicht zu einer teilweisen Kostenlast des Klägers, da der zurückgenommene Antrag sich hier nicht gegenstandswerterhöhend ausgewirkt hat. Der Gegenstandswert von 3000,00 Euro hat sich durch die teilweise Klagrücknahme nicht verringert. Nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch für Klageverfahren, die nicht die Asylanerkennung, sondern nur die Anerkennung als Konventionsflüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG (ggf. einschließlich weiterer nachrangiger Schutzbegehren) zum Gegenstand haben, nunmehr ein Gegenstandswert von 3000,00 Euro anzusetzen (BVerwG, Beschl, v. 21.12.2006 - 1 C 29/03 - = JURIS), wenn auf sie die Rechtslage ab dem 01 .Januar 2005 (§ 30 RVG) anwendbar ist.