VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 06.03.2007 - 9 B 06.30708 - asyl.net: M9917
https://www.asyl.net/rsdb/M9917
Leitsatz:
Schlagwörter: Äthiopien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Situation bei Rückkehr, Freepaper, Mitgabe von Medikamenten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; GG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

Die zugelassene und auch im übrigen zulässige Berufung gemäß § 78 Abs. 2 AsylVfG hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt zu Recht verpflichtet, beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens festzustellen.

HIV/Aids ist eine in Äthiopien weit verbreitete Krankheit. Es handelt sich um eine Epidemie. Schätzungen gehen dahin, dass von den ca. 70 Mio Äthiopiern zwischen 1 und 4 Millionen mit dem Erreger der Immunschwächekrankheit infiziert sind. Nach einer Auskunft des Deutschen Instituts für ärztliche Mission (DIFÄM) vom 22. März 2006 an das Verwaltungsgericht Ansbach bekommen nur etwa 1,3 % der Erkrankten die von ihnen benötigte langfristige Behandlung. In Äthiopien erreicht deshalb die Zahl der HIV/Aids-Infizierten ohne Behandlungsmöglichkeit die Größenordnung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einzelne Mitglieder der Bevölkerungsgruppe ist somit nach Satz 2 der Vorschrift ausgeschlossen. Eine politische Ermessensentscheidung nach § 60 a AufenthG für HIV-infizierte finanzschwache Äthiopier gibt es in Bayern nicht.

Wenn somit dem einzelnen Ausländer - und damit auch dem Kläger - kein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebeschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 und § 60 a AufenthG gebieten, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist (BVerwGE 99, 324 Leitsatz 3). Eine extreme Gefahrenlage im Sinne dieser Rechtsprechung liegt dann vor, wenn der betroffene Ausländer sehenden Auges alsbald nach der Abschiebung in sein Heimatland dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgesetzt wäre (BVerwGE 99, 324/328).

So liegt der Fall hier.

Der Kläger leidet an einer chronischen HIV-Infektion und bedarf regelmäßiger und engmaschiger ärztlicher Betreuung. Eine antiretrovirale Therapie unter entsprechenden Kontrollen der Immunparameter ist beim Kläger erforderlich.

Im Falle einer Therapieunterbrechung wäre aber mit einer raschen Verschlechterung der Immunparameter und dem Auftreten vital gefährdender opportunistischer Krankheiten zu rechnen (Attest vom 12.2.2007). Die Viruslast würde in kurzer Zeit ansteigen und die Zahl der CD4-Helferzellen abfallen. Eine zusätzliche Vermehrung der resistenten Virus-Stämme würde eintreten. Die HIV-Infektion nähme ihren natürlichen Verlauf. Der immungeschwächte Körper könnte den immer vorhandenen Krankheitserregern nicht mehr widerstehen. In Äthiopien sind Krankheitserreger wegen der unhygienischen Verhältnisse noch zahlreicher als in Deutschland. Der Tod träte mit hoher Wahrscheinlichkeit typischer Weise durch eine der folgenden Krankheiten ein: Chronische Hepatitis B und C, Tuberkulose, Pneumocystis-carinii-Pneumonie (Eintreten der Infektion bei 20 bis 30 % der Fälle, Tod in 80 % der Fälle), cerebrale Toxoplasmose (Eintreten bei 20 bis 30 % der Fälle; Tod in 80 % der Fälle), Soorbefall des Verdauungstrakts (Eintreten in 100 % der Fälle), CMV-Retinitis (Erblindung in 100 % der Fälle), Mycobakteriose (Tod in 100 % der Fälle) (Dr. Gölz "Basis-Information zu HIV und Aids in Abschiebeverfahren" Asylmagazin 2000, 13).

Diese schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Tod würden bei einer Abschiebung des Klägers alsbald nach Eintreffen in Äthiopien, innerhalb von Monaten, eintreten. Denn der Kläger hat sich schon 2003 oder früher mit HIV infiziert. Er ist im Stadium CDC B 2 des Krankheitsverlaufs. HIV-typische Krankheiten sind bei ihm schon aufgetreten, wie aus dem Attest vom 12. Februar 2007 und den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Medikamenten ersichtlich ist. Der Kläger würde in Äthiopien keine Behandlung seiner HIV-Infektion erhalten.

Zwar sind nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Mai 2006 an das VG Arnsberg Medikamente mit den Wirkstoffen Lamivudine, Zidovudine und Efavirenz in Äthiopien erhältlich. Das sind die Wirkstoffe, mit denen der Kläger derzeit therapiert wird. Aber es ist schon fraglich, ob die Medikamente, die der Kläger bei der nächsten Therapieumstellung benötigen wird, ebenfalls in Äthiopien verfügbar sein werden. Therapieumstellungen innerhalb von sechs Monaten bis drei Jahren sind bei der Behandlung von HIV typisch und notwendig. Die Ärzte sprechen von den einzelnen Therapieregimes. Beim Kläger, der bereits geraume Zeit mit Sustiva und Combivir behandelt wird, steht ein solcher Therapiewechsel in absehbarer Zeit an.

Die Frage der medikamentösen Behandlung des Klägers ist aber nicht alleinentscheidend, denn genauso wichtig wie das richtige Medikament im jeweiligen Therapieregime ist die regelmäßige und engmaschige ärztliche Betreuung, das Monitoring der Immunparameter und die Behandlung der jeweiligen opportunistischen Erkrankungen, denen der Körper alleine nicht mehr genügend Widerstandskraft entgegen zu setzen vermag. Beides zusammen wird als antiretrovirale Therapie (ART) bezeichnet.

Medizinische Behandlungsplätze für die notwendige Überwachung der Medikamentengabe und die begleitende Behandlung sind in Äthiopien nach der Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) für ca. 1,3 % der Patienten vorhanden, die sie eigentlich bräuchten. Der Kläger hätte keine Chance einer unter den Glücklichen der 1,3 % zu sein. In den Genuss der Therapieplätze kommen nur die wenigen wohlhabenden Äthiopier, welche die Kosten der ärztlichen Behandlung selbst aufbringen können. Die Kosten der ärztlichen Behandlung betragen in Addis Abeba nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich zwischen 20 bis 30 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) zwischen 70 und 230 US Dollar.

Der Kläger wird nicht nur keine ärztliche Behandlung in Äthiopien erhalten, sondern auch die zur HIV-Bekämpfung erforderlichen Medikamente nicht bezahlen können. Die Medikamentenkosten im Rahmen der antiretroviralen Therapie liegen in Äthiopien nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich bei etwa 33 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) bei 29 bis 92 US Dollar. Wie bereits ausgeführt, hat der Kläger auch hierfür die erforderlichen Finanzmittel nicht und wird sie sich auch durch Arbeit in Äthiopien nicht verdienen können. Der käufliche Erwerb der antiretroviralen Medikamente ist nach wie vor dem Kreis der besser Verdienenden (Angestellte in leitenden Positionen, Lektoren/Dozenten der Universitäten, Beamte in Führungspositionen u.ä.) vorbehalten (Auskunft des AA vom 12.12.2003 an VG Ansbach).

Ein staatliches Gesundheitssystem, das für Medikamentenkosten und Kosten der ärztlichen Behandlung aufkäme - vergleichbar dem deutschen - gibt es in Äthiopien nicht. In Äthiopien gibt es für die Ärmsten der Armen ein von der Kebele (Verwaltung der untersten Stufe) ausgestelltes sog. Freepaper. Das gewährt allerdings keine kostenlose Behandlung, sondern wohl nur einen Zuschuss zu den Krankenkosten in Höhe von etwa 10 Euro monatlich (Auskunft von DIFÄM vom 12.5.2005 an VG Ansbach). Die gegenteilige Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. Juni 2004 an das VG Ansbach dürfte wohl nicht zutreffen. Rückkehrer aus Europa werden von der äthiopischen Regierung allerdings nicht als mittellos angesehen (selbst wenn sie es sind) und bekommen deshalb kein Freepaper (Lagebericht des AA vom 18.7.2006 S. 23), so dass offen bleiben kann, welche Leistungen ein solches Freepaper beinhaltet.

Die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat im gerichtlichen Verfahren in Aussicht gestellt, der Freistaat Bayern könne im Fall der "freiwilligen" Rückkehr oder der Abschiebung dem Kläger einen für sechs Monate ausreichenden Medikamentenvorrat mitgeben. Dadurch könnte der Eintritt schwerster Gesundheitsbeeinträchtigungen oder des Todes um sechs Monate hinausgeschoben werden und würde nicht alsbald nach der Abschiebung eintreten. Damit wäre die Gefahr der erheblichen Gesundheitsverschlechterung für den Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mehr "konkret", denn sie würde nicht "alsbald nach der Rückkehr" eintreten.

Eine entsprechende Erklärung des Freistaats Bayern hat die Beklagte im vorliegenden Verfahren allerdings nicht vorgelegt, so dass in diesem Verfahren für das Gericht kein konkreter Anlass besteht, sich mit diesem Aspekt auseinander zu setzen.

Es kann lediglich angemerkt werden, dass die konkrete Gefahr durch die Medikamentenmitgabe noch nicht beseitigt wäre, weil die lebensnotwendige ärztliche Betreuung damit noch nicht sichergestellt wäre und überdies die mitgegebenen Medikamente im Fall eines notwendig werdenden Therapiewechsels nicht helfen würden, sondern sogar eher noch schaden und Krankheit und Tod noch beschleunigen würden. Der Kläger steht nach seinen Aussagen und dem letzten Attest vom 12. Februar 2007 vor einem Therapiewechsel.

Fragwürdig bleibt darüber hinaus, ob die Mitgabe der Medikamente zur "Vermeidung der Konkretheit der Gefahr" mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar wäre. Die Mitgabe von Medikamenten bei der Abschiebung ist mit Art. 1 Abs. 1 GG wohl nur dann vereinbar, wenn sie ausschließlich der Überbrückung der schwierigen Zeit dient, bis der Abgeschobene in seinem Heimatland wieder selbst für alles Notwendige sorgen kann. So liegt der Fall hier aber nicht: Vorliegend ist auch in sechs Monaten nicht zu erwarten, dass der Kläger für die von ihm benötigte ART und zusätzlich für seinen Lebensunterhalt und seine Unterkunft aufkommen kann.

Die Beklagte macht noch geltend, es sei nicht auszuschließen, dass sich in sechs Monaten die Verhältnisse der HIV-Therapie in Äthiopien so verbessert haben, dass die meisten Patienten dort - und auch der Kläger - in den Genuss einer ART kämen. Bei realistischer Betrachtungsweise ist dies nicht wahrscheinlich. Die Notwendigkeit von Verbesserungen bei der Behandlung von HIV/Aids-Erkrankten hat die äthiopische Regierung zwar schon lange erkannt. Schon 2001 wurden antiretrovirale Medikamente in die nationale Liste der essenziellen Medikamente aufgenommen und sind jetzt teilweise auch in staatlichenpotheken zu haben. Angesichts der Schwäche des Gesundheitssystems, der Armut des Staates und der Größe des Problems ist die gewünschte Verbesserung aber nur schwer umzusetzen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.7.2006 S. 23). Zurzeit erhalten nur 1,3 % der mehreren Millionen HIV-infizierten Äthiopier ART. Es ist alles andere als wahrscheinlich, dass sich hieran in einem halben Jahr oder auch in mehreren Jahren etwas Wesentliches ändern wird. Wenn es denn - völlig wider Erwarten - so wäre, könnte - darauf weist der Klägervertreter zu Recht hin - der Abschiebeschutz immer noch widerrufen werden. Für eine derartige Fallgestaltung liegen allerdings - auch in Anbetracht des fortgeschrittenen Stadiums der Krankheit beim Kläger - keinerlei Anhaltspunkte vor.