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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 06.03.2007 - 9 B 06.30682 - asyl.net: M9952
https://www.asyl.net/rsdb/M9952
Leitsatz:
Schlagwörter: Äthiopien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Situation bei Rückkehr, Freepaper, Mitgabe von Medikamenten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; GG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

Die zugelassene und auch im übrigen zulässige Berufung gemäß § 78 Abs. 2 AsylVfG hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt zu Recht verpflichtet, beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens festzustellen.

HIV/Aids ist eine in Äthiopien weit verbreitete Krankheit. Es handelt sich um eine Epidemie. Schätzungen gehen dahin, dass von den ca. 70 Mio. Äthiopiern zwischen 1 und 4 Millionen von der Immunschwächekrankheit infiziert sind. Nach einer Auskunft des Deutschen Instituts für ärztliche Mission (DIFÄM) vom 22. März 2006 an das Verwaltungsgericht Ansbach bekommen nur etwa 1,3 % der Erkrankten die von ihnen benötigte langfristige Behandlung. In Äthiopien erreicht deshalb die Zahl der HIV/Aids-Infizierten ohne Behandlungsmöglichkeit die Größenordnung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einzelne Mitglieder der Bevölkerungsgruppe ist somit nach Satz 2 der Vorschrift ausgeschlossen. Eine politische Ermessensentscheidung nach § 60 a AufenthG für HIV-infizierte finanzschwache Äthiopier gibt es in Bayern nicht.

Wenn somit dem einzelnen Ausländer - und damit auch dem Kläger - kein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebeschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 und § 60 a AufenthG gebieten, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist (BVerwGE 99, 324 Leitsatz 3). Eine extreme Gefahrenlage im Sinne dieser Rechtsprechung liegt dann vor, wenn der betroffene Ausländer sehenden Auges alsbald nach der Abschiebung in sein Heimatland dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgesetzt wäre (BVerwGE 99, 324/328).

So liegt der Fall hier.

Der Kläger leidet an einer chronischen HIV-Infektion und bedarf regelmäßiger und engmaschiger ärztlicher Betreuung. Eine antiretrovirale Therapie unter entsprechenden Kontrollen der Immunparameter ist beim Kläger erforderlich.

Im Falle einer Therapieunterbrechung wäre mit einer raschen Verschlechterung der Immunparameter und dem Auftreten vital gefährdender opportunistischer Krankheiten zu rechnen (Attest vom 11.2.2007). Die Viruslast würde in kurzer Zeit ansteigen und die Zahl der CD4-Helferzellen abfallen. Eine zusätzliche Vermehrung der resistenten Virus-Stämme würde eintreten. Die HIV-Infektion nähme ihren natürlichen Verlauf. Der immungeschwächte Körper könnte den immer vorhandenen Krankheitserregern nicht mehr widerstehen. In Äthiopien sind die Krankheitserreger wegen der unhygienischen Verhältnisse noch zahlreicher als in Deutschland. Der Tod träte mit hoher Wahrscheinlichkeit typischer Weise durch eine der folgenden Krankheiten ein: Chronische Hepatitis B und C, Tuberkulose, Pneumocystis-carinii-Pneumonie (Eintreten der Infektion bei 20 bis 30 % der Fälle, Tod in 80 % der Fälle), cerebrale Toxoplasmose (Eintreten bei 20 bis 30 % der Fälle; Tod in 80 % der Fälle), Soorbefall des Verdauungstrakts (Eintreten in 100 % der Fälle), CMV-Retinitis (Erblindung in 100 % der Fälle), Mycobakteriose (Tod in 100 % der Fälle) (Dr. Gölz "Basis-Information zu HIV und Aids in Abschiebeverfahren" Asylmagazin 2000, 13).

Diese schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Tod würden bei einer Abschiebung des Klägers alsbald nach Eintreffen in Äthiopien, innerhalb von Monaten, eintreten. Denn der Kläger hat sich schon 2002 oder früher mit HIV infiziert. Er ist im Stadium CDC B 2 des Krankheitsverlaufs. Der Kläger würde in Äthiopien keine Behandlung seiner HIV-Infektion erhalten.

Zwar ist nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Mai 2006 an das VG Arnsberg der Wirkstoff Efavirenz in Äthiopien erhältlich. Das ist einer der Wirkstoffe, mit denen der Kläger derzeit therapiert wird. Die Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir, die in Truvada enthalten sind, kann man in Äthiopien dagegen nicht kaufen. Außerdem ist es fraglich, ob die Medikamente, die der Kläger bei der nächsten Therapieumstellung benötigen wird, ebenfalls in Äthiopien verfügbar sein werden. Therapieumstellungen innerhalb von sechs Monaten bis drei Jahren sind bei der Behandlung von HIV typisch und notwendig. Die Ärzte sprechen von den einzelnen Therapieregimes.

Genauso wichtig wie das richtige Medikament im jeweiligen Therapieregime ist die regelmäßige und engmaschige ärztliche Betreuung, das Monitoring der Immunparameter und die Behandlung der jeweiligen opportunistischen Erkrankungen, denen der Körper alleine nicht mehr genügend Widerstandskraft entgegenzusetzen vermag. Beides zusammen wird als antiretrovirale Therapie (ART) bezeichnet.

Medizinische Behandlungsplätze sind in Äthiopien nach der Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) für ca. 1,3 % der Patienten vorhanden, die sie eigentlich bräuchten. Der Kläger hätte keine Chance, einer unter den Glücklichen der 1,3 % zu sein. In den Genuss der Therapieplätze kommen nur die wenigen wohlhabenden Äthiopier, welche die Kosten der ärztlichen Behandlung selbst aufbringen können. Die Kosten der ärztlichen Behandlung betragen in Addis Abeba nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich zwischen 20 bis 30 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) zwischen 70 und 230 US Dollar. Der Kläger hat nach seinen glaubwürdigen Aussagen weder in Äthiopien noch in Deutschland Ersparnisse oder Geldgeber zur Finanzierung der Therapiekosten. Als schwerkranker Mann hätte er in Äthiopien - zumal angesichts der äußerst niedrigen Löhne dort - nicht die Möglichkeit, das notwendige Geld zu erarbeiten. Der monatliche Durchschnittslohn eines Arbeiters (mit Familie) liegt in Äthiopien bei umgerechnet 20 Euro (Auskunft des AA vom 2.8.2005 an VG Ansbach). Ohne medizinische Betreuung gibt es keine antiretrovirale Therapie und ohne diese werden schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen oder gar der Tod innerhalb von Monaten nach der Rückkehr in Äthiopien eintreten.

Der Kläger wird nicht nur keine ärztliche Behandlung in Äthiopien erhalten, sondern auch die zur HIV-Bekämpfung erforderlichen Medikamente nicht bezahlen können. Die Medikamentenkosten im Rahmen der antiretroviralen Therapie liegen in Äthiopien nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich bei etwa 33 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) bei 29 bis 92 US Dollar. Wie bereits ausgeführt, hat der Kläger auch hierfür die erforderlichen Finanzmittel nicht und wird sie sich auch durch Arbeit in Äthiopien nicht verdienen können. Der käufliche Erwerb der antiretroviralen Medikamente ist nach wie vor dem Kreis der besser Verdienenden (Angestellte in leitenden Positionen, Lektoren/Dozenten der Universitäten, Beamte in Führungspositionen u.ä.) vorbehalten (Auskunft des AA vom 12.12.2003 an VG Ansbach).

Ein staatliches Gesundheitssystem, das für Medikamentenkosten und Kosten der ärztlichen Behandlung aufkäme - vergleichbar dem deutschen - gibt es in Äthiopien nicht.

Die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat im gerichtlichen Verfahren eine Zusicherung der Regierung von Mittelfranken - Zentrale Rückführungsstelle Nordbayern (ZRS) vom 8. Oktober 2004 des Inhalts vorgelegt, dass die ZRS im Fall der "freiwilligen" Rückkehr oder der Abschiebung des Klägers "die Kosten übernimmt die notwendig sein werden, damit der Kläger in Äthiopien für 6 Monate einen gesicherten Zugang zu Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten erhält, sofern dies anderweitig nicht sichergestellt werden kann". Dadurch könnte - so meint die Beklagte - der Eintritt schwerster Gesundheitsbeeinträchtigungen oder des Todes um sechs Monate hinausgeschoben werden und würde nicht "alsbald" nach der Abschiebung eintreten. Damit wäre die Gefahr der erheblichen Gesundheitsverschlechterung für den Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mehr "konkret", denn sie würde nicht "alsbald nach der Rückkehr" eintreten.

Die konkrete Gefahr wäre dadurch aber noch nicht beseitigt, weil die Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir, mit denen der Kläger derzeit therapiert wird, in Äthiopien nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Mai 2006 an das VG Arnsberg nicht auf dem Markt sind. Der Abbruch der vom Körper des Klägers gut angenommenen Therapie mit Truvada (Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir), würde zu Resistenzbildungen führen, wäre dem Gesundheitszustand in hohem Maße abträglich und könnte lebensbedrohlich werden.

Hinzu kommt folgendes: Die Zusicherung der Bezahlung von Medikamenten und Behandlung bei der Abschiebung für die maximale Dauer von 6 Monaten ist von der ZRS ausschließlich für die Überbrückung der schwierigen Zeit gedacht, bis der Abgeschobene in seinem Heimatland wieder selbst für alles Notwendige sorgen kann. Dies ergibt sich aus der Begründung der Zusicherung vom 8. Oktober 2004, welche lautet: "Antiretrovirale Medikamente sind in Addis Abeba in ausreichendem Maße und jederzeit verfügbar und werden in bestimmten Apotheken ausgegeben. Sofern der Patient über ein unzureichendes Einkommen verfügt, werden diese Medikamente kostenfrei abgegeben (Botschaftsbericht vom 12.12.2003 im Verfahren AN 18 K 03.30203)." Dies entspricht allerdings nicht der Realität. Auch in sechs Monaten ist nicht zu erwarten, dass der Kläger für die von ihm benötigte ART und zusätzlich für seinen Lebensunterhalt wird aufkommen können, wie vorstehend ausgeführt wurde. Die Verschiebung des Eintritts schwerster Krankheiten und des Todes durch die Bezahlung einer 6-monatigen ART lässt den Verstoß gegen die Menschenwürde und das Verbot der Verletzung von Leib und Leben (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), welcher in der Abschiebung eines HIV-infizierten finanziell Bedürftigen nach Äthiopien liegt, nicht entfallen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 26.1.1999 Az. 9 B 617.98) liegt eine extreme Gefahr im Sinn von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG analog (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog) nicht nur dann vor, wenn die Gefahr am Tag des Eintreffens im Heimatland eintritt, sondern auch dann, wenn zwischen dem Tag der Abschiebung und dem Eintreten der Gefahr ein Zeitraum liegt, der die sozialadäquate Kausalität zwischen Abschiebung und Gefahreneintritt noch deutlich erkennen lässt. Das ist jedenfalls bei einem Zeitraum von 6 Monaten noch der Fall. Über längere Zeiträume ist vorliegend nicht zu befinden.

Die Beklagte macht noch geltend, es sei nicht auszuschließen, dass sich in sechs Monaten die Verhältnisse der HIV-Therapie in Äthiopien so verbessert haben, dass die meisten Patienten dort - und auch der Kläger - in den Genuss einer ART kämen. Bei realistischer Betrachtungsweise ist dies nicht wahrscheinlich. Die Notwendigkeit von Verbesserungen bei der Behandlung von HIV/Aids-Erkrankten hat die äthiopische Regierung zwar schon lange erkannt. Angesichts der Schwäche des Gesundheitssystems, der Armut des Staates und der Größe des Problems ist die gewünschte Verbesserung aber nur schwer umzusetzen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.7.2006 S. 23).