VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 20.03.2007 - 1 K 3552/06.A - asyl.net: M9958
https://www.asyl.net/rsdb/M9958
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Zuwanderungsgesetz, Anwendungszeitpunkt, Anerkennungsrichtlinie, illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Machtwechsel, Gebietsgewalt, Religion, religiös motivierte Verfolgung, Jesiden, religiöses Existenzminimum, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Nordirak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Terrorismus, Versorgungslage, Abschiebungsstopp, Erlasslage, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet.

Die Beklagte hat die Feststellung, dass für die Klägerin die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen, zu Recht widerrufen und festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht gegeben sind.

1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG liegen vor. § 73 Abs. 2a AsylVfG ist hier nicht anwendbar. Im Übrigen kann sich der betroffene Ausländer nicht im Sinne eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf einen Verstoß gegen die in § 73 Abs. 2a AsylVfG festgelegte Prüfungspflicht berufen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, 1 C 34.06 - und 1 C 38.06 -; OVG NRW, Urteil vom 04.04.2006 - 9 A 3590/05.A -; Beschlüsse vom 11.04.2006 - 9 A 779/06.A und vom 14.04.2005 - 13 A 654/05.A -; Bayerischer VGH, Urteil vom 10.05.2005 - 23 B 05.30217 -; Beschluss vom 25.04.2005 - 21 ZB 05.30260 -; VGH Hessen, Beschluss vom 10.05.2005 - 7 UZ 810/05.A -, Asylmagazin 2005, S. 29; VG Karlsruhe, Urteil vom 12.07.2005 - A 11 K 10245/05 -).

Den Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Klägerin lag die Erwägung zu Grunde, dass ihr auf Grund der Asylantragstellung und der illegalen Ausreise eine politische Verfolgung durch die damalige irakische Regierung drohte. Diese Gründe sind mit den veränderten politischen Gegebenheiten seit dem unumkehrbaren Sturz des Regimes Saddam Husseins entfallen.

Der Klägerin droht auch nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

Das bisherige Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20.03.2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA verloren.

Eine tatsächlich souveräne neue Regierung oder sonstige irakische Herrschaftsmacht hat das bisherige Regime nicht ersetzt.

Selbst wenn man die gebildete Regierung als eine irakische Herrschaftsmacht ansehen sollte, so ist ein asylrechtserheblicher Übergriff staatlicher oder dem irakischen Staat zurechenbarer Kräfte nicht beachtlich wahrscheinlich. Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 24.11.2005; so auch OVG NRW, Urteil vom 04.04.2006 - 9 A 3590/05.A -).

Der Klägerin droht bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit derzeit und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung. Religiöse oder religiös motivierte Verfolgung ist dabei auch eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 b) der Richtlinie 2004/83/EG des Rats vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie). Nach Art. 10 Abs. 1 b) dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, dass der Begriff der Religion u.a. die Teilnahme bzw. die Nichtteilnahme an religiösen Rithen im privaten und öffentlichen Bereich umfasst. Mit diesem Inhalt wird der Schutz vor Verfolgung auf solche Maßnahmen ausgedehnt, die an die öffentliche Glaubensbetätigung anknüpfen.

Auch unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie ist eine Verfolgung der Klägerin auf Grund ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit nicht anzunehmen. Die Zahl der bekannt gewordenen Übergriffe auf Yeziden auf Grund ihrer Religion und unabhängig von ihrem Geschlecht reicht im Verhältnis zur Bevölkerungszahl (zwischen 200.000 und 600.000) nicht aus, um an Stelle einer erhöhten Gefährdung von einer generellen, nichtstaatlichen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG auszugehen. Auch angesichts der allgemein unsicheren Lage im Irak kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine unterschiedslose und für alle Siedlungsgebiete der Yeziden gleich bleibende Verfolgungsgefahr eines jeden Yeziden auf Grund seiner Zugehörigkeit zu diese Religion besteht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 01.04.2005 - 9 A 1121/05.A -; OVG Saarlouis, Beschluss vom 28.02.2007 - 3 Q 105/06 -; VG Göttingen, Urteil vom 11.01.2005 - 2 A 145/04 -; VG Augsburg, Urteil vom 31.03.2006 - Au 5 K 05.30495 -; VG Oldenburg, Urteil vom 16.11.2005 -3A 25213/05 -; Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 24.11.2005 und vom 10.06.2005; für sonstige religiöse Minderheiten Bayerischer VGH, Urteil vom 10.05.2005 - 23 B 05.30217 -).

Bei der aktuellen Medienpräsenz im Irak wäre aber davon auszugehen, dass eine Häufung derartig gezielter Anschläge nicht verborgen bleiben würde.

Aber auch wenn von einer Verfolgung der Yeziden im Süd- und Zentralirak ausgegangen würde, besteht hier für die Klägerin, die noch Verwandte im Irak hat, zur Überzeugung des Gerichts eine inländische Fluchtalternative im Nordirak. Insbesondere die Yeziden genießen im Norden des Landes den Schutz der ethnisch und sprachlich verwandten Kurden (vgl. insbesondere zur Erreichbarkeit: VG Oldenburg, Urteil vom 12.12.2006 - 3 A 3740/06 - m.w.N.; Bericht des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2005 und vom 02.11.2004; Stellungnahme von Hajo Savelsberg vom 02.11.2004 für das Verwaltungsgericht Regensburg).

II. Die Klägerin hat des Weiteren auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit der Klägerin im Sinne des der Sache nach allein in Betracht kommenden § 60 Abs. 7 AufenthG kann nicht ausgegangen werden.

Da nach alledem nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerin individuell gesteigerten Gefährdungen bei einer Rückkehr in den Irak ausgesetzt wäre, ist ihr Verpflichtungsbegehren allein anhand der allgemeinen Sicherheitslage im Irak zu beurteilen. Solche allgemeinen Gefahren wären im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber nur dann berücksichtigungsfähig, wenn die Sicherheitslage als so zugespitzt betrachtet werden müsste, dass jede Abschiebung den Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde. Nur in diesem Fall wäre aus verfassungsrechtlichen Gründen bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses auch eine allgemeine Gefährdungslage zu berücksichtigen. Dies kann insbesondere in Bürgerkriegsregionen der Fall sein (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 -; DVBl. 2001. 1531 m.w.N.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16.02.2004 - 8 A 10334/04 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -; Bayerischer VGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -).

Eine bürgerkriegsähnliche Bedrohungssituation ist im Irak im Übrigen derzeit aber zumindest landesweit nicht festzustellen.

Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich Anschläge und Übergriffe vornehmlich auf den Zentralirak konzentrieren und ihr wesentliches Ziel Mitglieder der internationalen Truppe, Ausländer sowie irakisches Sicherheitspersonal, das mit ihnen zusammenarbeitet, sind. Hohe Opferzahlen unter Unbeteiligten werden dabei jedoch zumindest billigend in Kauf genommen. Dagegen ist die Situation im Süd- und Nordirak vergleichsweise ruhig, insbesondere die kurdischen Gebiete des Nordens sind von den Kriegsfolgen bisher weitgehend unberührt geblieben. Eine bürgerkriegsähnliche Bedrohungslage besteht insoweit jedenfalls nicht, sodass der Klägerin eine Rückkehr in diesen Teil des Landes zugemutet werden kann.

Die allgemeine Einschätzung des erkennenden Gerichts entspricht auch der Rechtsprechung zur Sicherheitslage im Nachkriegsirak (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.09.2004 - A 2 S 471/02 -; OVG Rheinland-Pfalz. Beschluss vom 26.02.2004 - 8 A 10334/04 - mit umfangreichem Nachweis der Rechtsprechung; OVG NRW, Beschluss vom 06.07.2004 - 9 A 1406/02.A -; OVG Schleswig, Beschlüsse vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 - und vom 03.03.2005 - 1 LB 255/01 -; VGH München, Beschluss vom 04.11.2003 - 13 a ZB 03.31110 -; Beschluss vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; VG Ansbach, Beschluss vom 16.12.2003 - AN 3 S 03.31946 -; VG Aachen, Urteile vom 22.01.2004 - 4 K 1847/01 - und vom 24.02.2005 - 4 K 2206/02.A -; VG Göttingen, Beschluss vom 03.02.2004 - 2 B 35/04 -).

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor sehr gespannt ist und die nahezu täglich stattfindenden bewaffneten Angriffe zu einer erheblichen Gefährdung der Zivilbevölkerung führen. Derartige Gewaltaktionen sind jedoch - falls sie überhaupt politisch genannt werden können - lokal begrenzte Ereignisse, die die Klägerin nicht konkret und mit hoher Wahrscheinlichkeit, sondern quasi blind - träfen. Dies vermag ein aus den Grundrechten abgeleitetes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch nicht zu begründen.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage nicht von einer existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden. Wie dargestellt, führt das irakische Handelsministerium noch immer die Verteilung von Nahrungsmitteln durch (vgl. Gutachten des DOI vom 01.10.2003, erstattet für das OVG Schleswig; Berichte des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2005 und vom 06.11.2003 und 02.11.2004; Stellungnahme des UNHCR zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender von November 2003 und August 2004).

Unabhängig davon scheidet die Feststellung von Abschiebungsverboten auch wegen eines bestehenden anderweitigen Schutzes vor Abschiebung aus. Dies ist nicht nur beim Vorliegen eines Erlasses nach § 60a AufenthG der Fall, sondern auch bei jeder anderen bestehenden Erlasslage, die eine vergleichbare Sicherheit vor einer Abschiebung bietet (vgl. dazu insbesondere BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 379; Beschluss vom 10.09.2002 - 1 B 26.02 -; OVG NRW, Beschluss vom 27.07.2004 - 9 A 3288/02.A -).

Hierzu zählt insbesondere ein faktischer Abschiebestopp, der für den Irak auf Grund der Beschlusslage der Innenministerkonferenz vom 15.05.2003 (zuletzt bestätigt durch den Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren vom 05.05.2006 - eingeschränkt für straffällig gewordene irakische Staatsangehörige durch Beschluss vom 16./17.11.2006) besteht. Eine Änderung dieser Beschlusslage ist derzeit auch nicht absehbar.

Auf der Grundlage der vorangegangen Ausführungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG kann sich die Klägerin auch nicht auf die in Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie geregelten Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes berufen, der mangels eines entsprechenden Antrags der Klägerin bisher schon nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesamtes gewesen ist. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die hierfür erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die mit einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsste (vgl. Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/8/EG vom 13.10.2006), liegt - wie bereits zu § 60 Abs. 7 AufenthG ausgeführt wurde - nicht vor. Außerdem ist die Klägerin auf Grund der genannten Erlasslage bereits hinreichend vor einer Rückführung in den Irak geschützt (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 18.12.2006 - 1 B 53.06 -; Bay. VGH, Urteil vom 20.12.2006 - 13a B 06.30703OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 22.12.2006 - 1 LA 125/06; Hollmann, Asylfolgeantrag auf Grund der Qualifikationsrichtlinie, Asylmagazin 11/2006, S. 4 ff).