VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 05.03.2007 - 1 K 2959/96.A - asyl.net: M9973
https://www.asyl.net/rsdb/M9973
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Glaubwürdigkeit, exilpolitische Betätigung, Nachfluchtgründe, Demonstrationen, Genfer Flüchtlingskonvention, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungsbegriff, Überwachung im Aufnahmeland, Geheimdienst, Volksmudjaheddin, Monarchisten, NID/OIK, Apostasie, Konversion, Christen, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Die Klägerin zu 1 hat einen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des nunmehr anzuwendenden § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen.

Ihr Leben und ihre Freiheit ist wegen der beschriebenen exilpolitischen Tätigkeit vornehmlich wegen der insoweit erheblich nach Außen getragenen politischen Überzeugung bedroht.

Vornehmlich vor dem Hintergrund, dass selbst nach den sich an § 51 Abs. 1 AuslG orientierenden Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2000 (514 - 516.80/36639), vom 27. Oktober 2000 (514 - 516.80/35175), vom 16. November 2000 (514 - 516.80/36726) jeweils an das VG Potsdam; vom 5. September 2000 (514 - 516.80/36624) an das VG Köln und des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 23. August 2000 (IV C 21-247-S 410093-24/00), 11. Dezember 2000 (IV C 21-247-S 410043-38/00), vom 21. Februar 2001 (IV C 22-247-S 410093-6/01) jeweils an das VG Köln; vom 23. August 2000 (IV C 21-247-S 410043-7/00) an das VG Leipzig; vom 23. August 2000 (IV C 21-247- S 410094-21/00 und 22/00) an das VG Potsdam wie die neuerlichen Lageberichte "Iran" des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2006 und 27. September 2006 fast durchgängig seitens des iranischen Geheimdienstes etwa die Teilnehmer an regimekritischen/regimefeindlichen Demonstrationen und öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen und Auftritten gefilmt und erfasst werden, beruhen die weiteren auch von Teilen der Rechtsprechung (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 8. September 2005 - 5 A 3242/05.A m.w.N.; Hessischer VGH, Urteil vom 30. November 1998 - 9 UE 1492/95; Sächsisches OVG, Urteil vom 5. Juni 2002 - A 2 B 117/01; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urteil vom 23. Mai 2003 - 3 LB 2/03) getroffenen Feststellungen, grundsätzlich hätten nur solche Mitglieder exilpolitischer Gruppen und Teilnehmer exilpolitischer Aktivitäten mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr in den Iran mit "politischer Verfolgung" - im Sinne der engeren Anwendung des § 51 Abs. 1 AuslG - zu rechnen, die sich an exponierter Stellung betätigt haben (so auch Deutsches Orient-Institut vom 3. Februar 2006 an das VG Wiesbaden) insoweit auf einer bloßen nicht näher begründeten Annahme (vgl. auch Zusammenfassung: Länderanalyse der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 4. April 2006 - Iran: Rückkehrgefährdung für Aktivistinnen und Mitglieder exilpolitischer Organisationen - Informationsgewinnung iranischer Behörden). Die getroffenen Feststellungen, dass es unwahrscheinlich sei, dass der iranische Staat trotz intensiver nachrichtendienstlicher Erfassung nur sogenannte exponiert Tätige im Falle der Rückkehr belangt und mithin an Leib und Leben bedroht, ist nach Ansicht der Kammer vor dem Hintergrund der allgemein bekannten (aktuellen) politischen Situation im Iran auch nicht ansatzweise begründbar. Dies um so weniger, als der iranische Staat, wie den am Kammergericht Berlin unter dem Aktenzeichen: (1) 3 StE 4/99, (1/99) - Fall ... und (2) 3 StE 1103 - 1 (1) (3/03) - Fall ... - verhandelten und zu Lasten der Angeklagten abgeurteilten Strafverfahren wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zugunsten des Staates Iran nachhaltig entnommen werden kann, konkret in die exilpolitische Bewegung Spitzel einschleust. Zielgruppe des iranischen Staatsbürgers ... war dabei die exilpolitische Bewegung der Volksmudjaheddin und Zielgruppe des als asylberechtigt anerkannten iranischen Staatsbürgers ... waren Mitglieder der monarchistischen Bewegungen. So hat sich zum Beispiel ... in den jeweiligen Asylbewerberheimen nachhaltig um seine Landsleute "gekümmert" und insbesondere die persönlichen Lebensdaten einschließlich von Anschriften weiterer Familienmitgliedern u.a. auch im Iran erfragt; dies selbst bei politisch "Unverdächtigen". Dieser geheimdienstliche Einsatz im Kleinen und Alltäglichen belegt das intensive Interesse der staatlichen iranischen Stellen an jedweden (exil-)politischen Aktivitäten der etwa in Deutschland lebenden iranischen Staatsbürger. Im Übrigen gehen selbst das Auswärtige Amt wie das Bundesamt für Verfassungsschutz in den genannten Auskünften wie aber auch der UNHCR in seiner Stellungnahme vom 31. Juli 2000 an Herrn Rechtsanwalt ... selbst davon aus, dass staatliche Maßnahmen, insbesondere als Reaktion auf regimefeindliches Verhalten, einer unkalkulierbaren Willkür unterliegen. Die Feststellungen des Auswärtigen Amtes in den jeweiligen Einzelauskünften und des Bundesamtes für den Verfassungsschutz hinsichtlich der Einschränkung auf exponierte exilpolitische Tätigkeit sind auch deshalb wenig nachhaltig, als nach der gegenwärtigen Auskunftslage nicht konkret angegeben werden kann, was unter exponierter Tätigkeit zu verstehen ist und warum auch nur eine solche Tätigkeit asylrechtlich relevante Reaktionen bzw. eine Bedrohung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG des iranischen Staates nach sich ziehen soll. Vor diesem Hintergrund kann es aus Rechtsgründen immer nur auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommen (vgl. OVG Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2002 - 4 A 136/02.AZ). Dies gilt um so mehr und so lange, wie keine sicheren Erkenntnisse vorliegen, wie und in welcher Weise der iranische Staat mit in den Iran Zurückgekehrten ehemals exilpolitisch Tätigen iranischen Staatsbürgern umgeht bzw. bis zum Zeitpunkt einer nachhaltigen politischen Veränderung im Iran selbst.

Die Klägerin zu 1 hat belegt durch vielfältige Dokumente im gesamten gerichtlichen Verfahren nachvollziehbar und glaubhaft dargelegt, dass sie sich ab 1997 durchgängig exilpolitisch betätigt hat. Ihre Aktivitäten beschränkten sich nach ihrem glaubhaften Vortrag und in Auswertung des gesamten vorgelegten Beweismaterials dabei nicht nur auf ein bloßes "Mitläufertum". Sie hat sich an hervorgehobener Stelle in der O.I.K./N.I.D. hervorgetan und in vielfältiger Weise deutschlandweit an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilgenommen und teilweise Demonstrationen organisiert bzw. auch die Teilnahmemöglichkeit iranischer Landsleute an solchen Organisation gemanagt. Diese Bedrohung wird bestärkt und hat darüber hinaus ihren alleinigen Grund auch im Übertritt der Klägerin zu 1 zum Christentum. Die Abkehr vom Islam und Hinwendung zum Christentum (Apostati) führen zu einer massiven Gefährdung von Apostaten im Iran (Prof. Dr. Dr. Th. Schirrmacher: Unterdrückung der Religionsfreiheit und Christenverfolgung im Iran; siehe auch wiedergegebenes Zitat in BVerwG 1 B 26.5 - Beschluss vom 27. Januar 2006). Apostaten müssen im Iran befürchten, gleich ob aufgrund islamisch religiöser oder (quasi) staatlicher Grundlage deswegen bekämpft zu werden, als die Apostasie als Angriff auf den Bestand der Islamischen Republik Iran gewertet wird. Der politische Machtanspruch der im Iran herrschenden Mullahs ist absolut. Dieser Machtanspruch ist religiös fundiert, d.h. die iranischen Machthaber verstehen die Ausübung der politischen Macht als gleichsam natürliche Konsequenz ihrer Religion. Deshalb ist, weil dies den Gesetzen des Islam entspricht, religiöse Toleranz u.a. der christlichen Religionsgemeinschaften nur solange vorgesehen, wie deren Angehörige sich dem unbedingt religiösen und politischen Herrschaftsanspruch unterwerfen. Ein Ausbreiten dieser (Buch-)Religionsgemeinschaften in das "Muslimische Staatsvolk" hinein kann demgegenüber den im Iran bestehenden Führungsanspruch der Mullahs in Frage stellen. Letztere differenzieren nämlich nicht zwischen Politik und Religion und übertragen diese Gleichsetzung auf andere Religionsgemeinschaften, denen sie unterstellen, ebenfalls Politik im religiösen Gewande zu betreiben (vgl. Deutsches Orientinstitut, Auskunft vom 6. Dezember 2004 an das Sächsische OVG; Dr. Th. Schirrmacher: Wenn Muslime Christen werden - Verfolgung und Strafe für Konvertiten. www.lausannerbewegung.de; Abfall vom Islam nach Koran und Scharia, ebenda). Vornehmlich unter Berücksichtigung von Artikel 10 Abs. 1 b der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG kann und darf einem Asylbewerber auch nicht mehr mit Erfolg vorgehalten werden, er müsse seine Religionsausübung quasi auf seine "4 Wände" beschränken.