VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 16.04.2007 - 5 A 288/05 - asyl.net: M9974
https://www.asyl.net/rsdb/M9974
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für kurdische Volkszugehörige aus der Türkei wegen posttraumatischer Belastungsstörung nach Misshandlung durch Sicherheitskräfte.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Übergriffe, Vergewaltigung, Misshandlungen, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für kurdische Volkszugehörige aus der Türkei wegen posttraumatischer Belastungsstörung nach Misshandlung durch Sicherheitskräfte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Zwar hat die Klägerin zu 1), wie sich auch aus den Ausführungen der Gutachter in dem vom Gericht eingeholten psychologischen Gutachten der TraumaTranfsformGmbH ergibt, glaubhaft gemacht hat, dass sie ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor regionaler individueller politischer Verfolgung verlassen hat. Sie hat nachvollziehbar dargelegt, dass und wie sie von türkischen Sicherheitskräften behelligt, verhaftet, vergewaltigt und misshandelt worden ist. An der Glaubhaftigkeit dieser Schilderungen hat das Gericht keine Zweifel.

Die Klägerin hat jedoch bei einer Rückkehr in die Türkei zum jetzigen Zeitpunkt hinreichend sicher nicht mit erneuter politischer Verfolgung zu rechnen. Sie gehört keiner der Gruppen an, die in der Türkei heute noch zum Kreis besonders gefährdeter Personen zählte, wie z.B. Funktionäre, aktive Mitglieder kurdischer Parteien oder Organisationen, der Menschenrechtsaktivisten oder der in den Medien Tätigen (vgl. dazu im Einzelnen: OVG Münster, Urt. v.19.04.2005 - 8 A 273/04.A m.w.N.). Sie hat sich auch nach ihren eigenen Bekundungen weder in der Türkei noch in Deutschland politisch in einem Rahmen betätigt, in dem er in Gefahr geraten könnte, erneut ins Blickfeld der Sicherheitskräfte zu geraten. Ein besonderes Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an der Person der Klägerin zu 1) ist daher zu verneinen. Landesweite Verfolgungsmaßnahmen gegenüber der Klägerin zu 1) sind auch weder vorgetragen noch festzustellen. Das Gericht ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin zu 1) in der Türkei eine inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen zur Verfügung steht, auf die sie auch zu verweisen ist. Dort ist sie vor asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher. Das Gericht folgt insoweit der Auffassung des Niedersächsische Oberverwaltungsgerichts. Dieses vertritt nämlich in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom 18. Januar 2000 - 11 L 3404/99 und 2 L 6856/96 -), der das erkennende Gericht insoweit folgt, die Auffassung, dass Kurden aus den angestammten Siedlungsgebieten im Osten der Türkei, die einer regionalen Verfolgung in ihrer Heimatregion ausgesetzt sind, im westlichen Teil der Türkei hinreichend sicher vor unmittelbarer oder mittelbarer politischer Verfolgung sind.

Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch auch nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden zu.

Insoweit ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass in der Türkei eine Gruppenverfolgung der Kurden gegenwärtig nicht stattfindet (vgl. Grundsatzurteil der Kammer vom 30. November 2000, - 5 A 762/99 -, seither ständige Rechtsprechung).

Die Klägerin zu 1) hat aber einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

Die Gutachter kommen in ihrem Gutachten zu der Feststellung, dass die Klägerin zu 1) an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) leidet, welche sich in Erinnerungsdruck, Angst- und Vermeidungsverhalten und chronischer Übererregung sowie verschiedenen psychosomatisch bedingten körperlichen Beschwerden äußert. Diese posttraumatische Belastungsstörung kann nach Einschätzung der Gutachter mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die im Heimatland erlittene Erlebnisse zurückgeführt werden. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei wäre daher mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit einer erheblichen lebensbedrohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, begründet durch eine Reaktivierung der traumatisierenden Erfahrungen und auch eine massive Verstärkung der Ängste der Klägerin zu 1). zu rechnen. Die aktuell latente Suizidalität werde sich bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund der aggressiven Impulsdurchbrüche und der mangelnden Handlungskontrolle derart verschärfen, dass suizidale Impulse wahrscheinlich wären.