VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 13.02.2007 - A 11 K 11438/05 - asyl.net: M9989
https://www.asyl.net/rsdb/M9989
Leitsatz:

Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen seit dem zweiten Tschetschenienkrieg (Änderung der Rspr. der Kammer); ob eine interne Fluchtalternative besteht, ist abhängig vom Einzelfall (hier abgelehnt wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Tschetschenien für Umtausch des Inlandspasses); der Ausschluss des internen Schutzes nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie wegen Gefahren im sicheren Landesteil setzt voraus, dass die Gefahren nicht auch am Herkunftsort bestehen.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Anerkennungsrichtlinie, Existenzminimum, persönliche Umstände, 2. Tschetschenienkrieg, Filtrationslager, Inhaftierung, Folter, Misshandlungen, Kadyrow, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Registrierung, Freizügigkeit, Dagestan (A), Inguschetien (A), Moskau (A), St. Petersburg (A), Krasnodar (A), Stawropol (A), Inlandspass, Umtausch, Zumutbarkeit, Wohnraum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2
Auszüge:

Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen seit dem zweiten Tschetschenienkrieg (Änderung der Rspr. der Kammer); ob eine interne Fluchtalternative besteht, ist abhängig vom Einzelfall (hier abgelehnt wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Tschetschenien für Umtausch des Inlandspasses); der Ausschluss des internen Schutzes nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie wegen Gefahren im sicheren Landesteil setzt voraus, dass die Gefahren nicht auch am Herkunftsort bestehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Es kann dahinstehen, ob der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand, da sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht auf interne Schutzmöglichkeiten in anderen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden kann.

Nach den allgemeinen Gegebenheiten in den als interne Schutzalternativen in Frage kommenden Gebieten und den persönlichen Umständen der Klägerin kann es von dieser nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in diese Gebiete zu begeben, da ihr dort andere existentielle Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und die in Tschetschenien so nicht bestünden.

Nach diesen Maßstäben ist davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Umstände ohne eine Registrierung nur vorübergehend in den Gebieten der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien existieren kann. Nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin keine Angehörige in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, auf deren Hilfe sie zurückgreifen könnte. Es gibt auch keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach tschetschenische Landsleute in der Diaspora einander helfen, auch wenn sie nicht miteinander bekannt oder verwandt sind. Auch sonstige Anknüpfungspunkte der Klägerin zu diesen Gebieten sind nicht erkennbar. Die Klägerin hat nie außerhalb ihres Familienverbandes und nie in anderen Gebieten der Russischen Föderation gelebt. Gänzlich auf sich allein gestellt vermag sie zur Überzeugung der Kammer ohne die mit einer Registrierung verbundenen elementaren sozialen Rechte nicht auf längere Sicht ihr Existenzminimum zu sichern.

Eine solche Registrierung kann die Klägerin nicht erlangen, da es ihr bereits nicht zuzumuten ist, sich einen für eine Registrierung unabdingbaren gültigen russischen Inlandspass zu beschaffen, den sie zur Überzeugung der Kammer nicht besitzt. Auf die Frage, ob sich die Klägerin sodann innerhalb einer ihr individuell zumutbaren Zeit erfolgreich gegen eine unrechtmäßige Verwehrung einer Registrierung zur Wehr setzen können wird, kommt es daher nicht an.

Nach Aufhebung des Befehls des Innenministeriums Nr. 347 vom 24. Mai 2003, nach dem es Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens aufhielten, möglich war, ihren Inlandspass auch am Ort des vorübergehenden Aufenthaltes umzutauschen, ist dieser Personenkreis nunmehr wieder gezwungen, an den registrierten Wohnort zurückzukehren, um Passpapiere zu erhalten (vgl. AA, Auskunft v. 22.11.2005 an das VG Berlin). Nicht offiziell mit ständigem Wohnsitz im Ausland lebende russische Staatsangehörige müssen daher an ihren registrierten Wohnort zurückkehren, der sich selbst nach jahrelanger Abwesenheit nicht ändert, da es in der Russischen Föderation keine Abmeldung von Amts wegen gibt.

Von der Klägerin kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, auch nur vorübergehend zum Zwecke der Passbeschaffung nach Tschetschenien zurückzukehren, da jedenfalls aufgrund individueller Umstände nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass sie dort asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird. Es kommt mithin nicht darauf an, ob unabhängig von Besonderheiten des Einzelfalls tschetschenischen Volkszugehörigen generell eine kurzzeitige Rückkehr nach Tschetschenien gegenwärtig nicht zuzumuten ist (so Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; a.A. Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -). Der Erlass Nr. 828 sieht eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen für die Ausstellung eines Inlandspasses vor, die auch in Tschetschenien regelmäßig eingehalten wird. Da die Ausstellung eines Rückreisedokuments für passlose russische Staatsangehörige eine Identitätsprüfung durch die russischen Innenbehörden voraussetzt, ist davon auszugehen, dass bei der Beantragung des Inlandspasses in Tschetschenien die für die Ausstellung eines Inlandspasses benötigten Unterlagen vorliegen (AA, Auskunft v. 03.03.2006 an den Bay. VGH).

Trotz der demnach nur geringen Zeit, die die Klägerin in Tschetschenien verbringen müsste, und die sie durch eine zwischenzeitliche Ausreise weiter verkürzen könnte, ist der Klägerin die Passbeschaffung nicht zumutbar. Die Sicherheitslage in Tschetschenien ist nicht nur im Hinblick auf die dargestellten Übergriffe russischer und pro-russischer tschetschenischer Sicherheitskräfte besorgniserregend. Die tschetschenische Zivilbevölkerung ist darüber hinaus Übergriffen durch die in Tschetschenien ansässigen Rebellengruppen oder sonstige marodierende Banden ausgesetzt. Selbst wenn man gleichwohl annehmen wollte, während eines derart kurzen Aufenthalts in Tschetschenien bestünde lediglich die theoretische, nicht aber die reale Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, sind vorliegend objektive Anhaltspunkte gegeben, die einen Übergriff auf die Klägerin als nicht ganz entfernt, sondern als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen.