OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.12.1998 - 20 A 2845/97.A - asyl.net: R207
https://www.asyl.net/rsdb/R207
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Flüchtlingsfrauen, Hazara, Machtwechsel, Gebietsgewalt, Taliban, Quasi-staatliche Verfolgung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Extreme Gefahrenlage, Allgemeine Gefahr, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Der von der Klägerin geltend gemachte Schutzanspruch scheitert daran, daß eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, die von ihr befürchteten Verfolgungshandlungen könnten politischen Charakter haben, nicht erkennbar ist.

Für das Gebiet der Taliban, für das allein die Herausbildung einer staatsähnlichen Organisation in Betracht zu ziehen ist, ist zwar nicht zweifelhaft, daß die Taliban effektive Strukturen zur Durchsetzung der von ihnen proklamierten Form des Islam geschaffen haben. Jedoch erfüllt nicht jede Organisation, die in einem Gebiet übergreifende Regeln anwendet und mit Waffengewalt Herrschaftsmacht ausübt, allein schon deshalb die Voraussetzungen quasi-staatlicher Herrschaft. Die Organisation muß in ihrem Streben, ihrer Vorgehensweise und vor allem nach ihrem Selbstverständnis quasi-staatlich auftreten. Staaten hat das Bundesverfassungsgericht als "in sich befriedete Einheiten" qualifiziert, "die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise relativieren, daß diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben". Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Anwendbarkeit rechtsstaatlich-demokratischer Kategorien - für die eher monolithisch strukturierten Taliban von Anfang an zu verneinen - kein zwingendes Erfordernis der Staatsähnlichkeit eines Regimes darstellt, verbleibt die von den Taliban praktizierte "Ordnung" doch nach ihrem Selbstverständnis in einem vorstaatlichen Stadium.

Abgesehen hiervon fehlt es der Gebietsgewalt der Taliban an der für staatsähnliche Organisationen erforderlichen Stabilität und Dauerhaftigkeit.

Die Macht der Taliban ist - auch in Würdigung der gegenwärtigen Lage - nach außen wie nach innen wesentlich gefährdet.

Es kann auch nicht angenommen werden, daß die Herrschaft der Taliban sich zumindest in einem Kernbereich bereits stabilisiert hat. Vielmehr beanspruchen die konkurrierenden Kräfte der Nord-Allianz auch heute noch die legitime Herrschaft über ganz Afghanistan.

Da Tatsachen im Sinne des § 53 Abs. 2 und 3 AuslG ersichtlich nicht vorliegen und § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG kein eigenständiges Abschiebungshindernis enthält, ist lediglich noch Abschiebungsschutz gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG in Betracht zu ziehen. Auch insoweit liegen die Voraussetzungen bei der Klägerin nicht vor.

Vor dem Senat hat sie sich allein auf ihre Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazaras berufen. Die unter diesem Blickwinkel geltend gemachte Gefahr droht indessen einer großen Zahl weiterer Personen in bzw. aus Afghanistan gleichermaßen; es handelt sich deshalb um eine allgemeine Gefahr. Nichts anderes gilt für die mädchen- und frauenspezifischen Formen der Unterdrückung und Entrechtung durch die Taliban. Der krasse Gegensatz zwischen den Lebensverhältnissen von Mädchen und Frauen einerseits in Deutschland - bzw. sonstigen westlich geprägten Ländern - und andererseits in den von den Taliban beherrschten Gebieten in Afghanistan, ist auch unter Berücksichtigung des Bildungsstandes der Klägerin, ihres langen Auslandsaufenthaltes und ihrer sonstigen Situation ein Umstand, den sie mit einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat Afghanistan teilt. Die Ablehnung der von den Taliban definierten Stellung von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft Afghanistans wird in Verfahren der vorliegenden Art von Frauen bzw. Familien mit weiblichen Familienmitgliedern fast durchgängig betont.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ergibt sich für die Klägerin auch nicht aus allgemeinen Gefahren im Zielstaat Afghanistan. Die Gefahren für die dortige Bevölkerung insgesamt oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen, denen die Klägerin zuzurechnen ist, haben sich ausweislich der vorliegenden, in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel nicht in einem Maße verdichtet, daß von einer extremen Gefahrenlage ausgegangen werden könnte, die trotz ihres allgemeinen Charakters ausnahmsweise Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG begründen könnte. Unter Berücksichtigung sowohl der militärischen Verhältnisse als auch der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen und der übrigen Umstände ist die Wahrscheinlichkeit, an Leib oder Leben beeinträchtigt zu werden, nicht so hoch, daß die Frage des Abschiebungsschutzes in Abweichung von §§ 53 Abs. 6 S. 2, 54 AuslG verfassungskonform nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zu bewältigen wäre.