VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 05.11.1998 - AN 12 K 98.33373 - asyl.net: R29
https://www.asyl.net/rsdb/R29
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Widerruf, Bürgerkrieg, Versorgungslage, Existenzminimum, Politische Entwicklung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

In dem vorliegenden Urteil geht es darum, ob das Bundesamt im Sommer 1998 die in dem ursprünglichen Asylverfahren getroffene Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG widerrufen durfte. Die Kammer stellte die Unzulässigkeit des Widerrufs mit folgender Begründung fest: "Im vorliegenden Fall ist der Widerruf rechtsfehlerhaft, da die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG bei dem Kläger als sierra-leonischem Staatsangehörigen weiterhin vorliegen. Es bestehen auch derzeit noch in gleicher Weise wie bei Ergehen des positiven Bundesamtsbescheids bei dem Kläger bei Rückkehr nach Sierra Leone konkrete Gefahren für Leib und Leben. Die Lage in diesem Land ist nach wie vor katastrophal, wie sich aus den neuesten Stellungnahmen und Äußerungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und des Instituts für Afrika-Kunde ergibt. Das Jahr 1998 war ein Jahr schwerster Kämpfe in Sierra Leone. Die durch Wahlen legitimierte Regierung Kabbah wurde mit Waffengewalt wieder in ihr Amt eingesetzt. Dies geschah mit Hilfe der ECOMOG-Truppen, die im wesentlichen aus nigerianischen Militärangehörigen bestehen. Die Militärjunta Koromas wurde dabei in blutigen Kämpfen vertrieben und Präsident Kabbah am 10. März 1998 in sein Amt eingeführt. Damit war die Lage jedoch in keiner Weise stabilisiert. In den folgenden Monaten kam es im gesamten Land zu schweren Kämpfen. Zwar verkündete am 20. Mai 1998 das ECOMOG-Kommando, die Kontrolle über die Distrikthauptstädte des Landes zu besitzen. In Wahrheit kommt es aber nach diesem Zeitpunkt noch zu Kämpfen zwischen den ECOMOG-Truppen und Truppen der früheren AFRC. Diese werden von den ehemaligen RUF-Einheiten im Kampf gegen die ECOMOG unterstützt. Die ECOMOG ihrerseits wird von den Kamajor-Milizen unterstützt. Die Verbände der AFRC und der RUF verübten in verschiedenen Landesteilen schwere Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung wie Hinrichtungen und brutale Verstümmelungen. Von ähnlich schweren Menschenrechtsverletzungen wird auch bezüglich der Kamajor-Milizen berichtet. In der Hauptstadt Freetown finden zwar derzeit keine Kämpfe statt, doch sind dort Grundnahrungsmittel nicht erhältlich oder so teuer, daß sie für Personen ohne erhebliches Einkommen nicht zur Verfügung stehen. Die Wasserversorgung ist nicht in einwandfreier Weise gewährleistet, so daß dort Ruhr, Cholera und Atemwegserkrankungen herrschen. Von den hieraus resultierenden Gefahren für Leib und Leben sind derzeit sierra-leonische Staatsangehörige nicht nur in Einzelfällen, sondern generell bedroht und betroffen. Wie prekär die Lage in diesem Land ist, zeigt der Umstand, daß aus Sierra Leone, nachdem schon in den vorangegangenen Jahren über größte Flüchtlingszahlen berichtet wurde, nochmals 120.000 Menschen seit Februar des Jahres in das Nachbarland Guinea geflüchtet sind (DPA-Meldung v. 28.7.98). In Übereinstimmung mit den Urteilen verschiedener anderer Verwaltungsgerichte (etwa VG Mainz, Urt. v. 1.7.1998 - 8 K 790/95, VG Stade, Urt. 29.4.1998 - 3A 60/96, VG Potsdam, Beschluß v. 19.8.98 - 4 L 860(98.A) ist das erkennende Gericht der Auffassung, daß in Sierra Leone weiterhin und derzeit noch eine extreme Gefahrenlage im Sinne eines Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG herrscht, die dem Erlaß eines Widerrufsbescheids entgegensteht.