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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 22.01.1999 - 2 BvR 86/97 - asyl.net: R351
https://www.asyl.net/rsdb/R351
Leitsatz:

Verletzung des Asylgrundrechts durch Verkennung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme als "politische Verfolgung" und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen.

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Haft, Folter, Glaubwürdigkeit, Familienangehörige, PKK, Mitglieder, Beweisantrag, Wahrunterstellung, Strafverfolgung, Terrorismusbekämpfung, Politmalus, Rechtliches Gehör, Sachaufklärungspflicht, Verfolgungszusammenhang, Situation bei Rückkehr
Normen: GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer zu 1. in der mündlichen Verhandlung unter Beweis gestellten Behauptungen dazu, daß er in der Türkei wiederholt wegen Unterstützung der PKK verhaftet worden sei als wahr unterstellt. Damit hat es im Rahmen des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes ( § 86 Abs. 1 VwGO ) seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde gelegt: Der Beschwerdeführer zu 1. wurde mindestens in neun, möglicherweise sogar fünfzehn Fällen auf die Wache gebracht und dort jeweils für einen oder zwei Tage festgehalten. Etwa zwei bis drei Monate vor seiner Ausreise wurde er schließlich einen Monat auf der Wache festgehalten, verhört, geschlagen, mit Stiefeln getreten, mißhandelt und gefoltert. Den ihm gemachten Vorwurf der Unterstützung der Kurden bzw. der PKK räumte er dabei ein.

Diese vom Beschwerdeführer zu 1. geschilderten Maßnahmen hat das Verwaltungsgericht als asylrechtlich unerheblich qualifiziert. Die dazu angestellten Erwägungen stehen schon maßstäblich mit den oben dargelegten Grundsätzen, wonach solche Maßnahmen auch im Bereich des staatlichen Rechtsgüterschutzes politische Verfolgung sein können, nicht im Einklang. Das Verwaltungsgericht hat unberücksichtigt gelassen ( jedenfalls läßt sich der Begründung Gegenteiliges nicht entnehmen ), daß vor allem die Häufigkeit solcher Vorkommnisse, deren schikanöse Tendenz, die dem Beschwerdeführer zu 1. dabei zugefügte menschenrechtswidrige Behandlung, deren Fortsetzung trotz der von ihm eingeräumten Unterstützung der PKK und schließlich auch das Ausbleiben gesetzlich vorgesehener strafrechtlicher Konsequenzen im Sinne "sonstiger Umstände" Anhaltspunkte dafür ergeben können, daß es sich hierbei um Maßnahmen politischer Verfolgung - wenngleich unter dem Deckmantel angeblicher "Terrorismusbekämpfung" bzw. "gerechtfertigt " als " ordnungsrechtliche Maßnahmen " - handelt. In dieser Erscheinungsform können die genannten Maßnahmen nach ihrer objektiven Gerichtetheit jenseits der Terrorismusbekämpfung auch zum Ziel haben, die im Einzelfall festgestellte oder generell bei allen Kurden in Südostanatolien vermutete, mit dem Terrorismus/Separatismus sympathisierende Gesinnung durch Anwendung menschenrechtswidriger Gewalt und fortwährende Schikanen zu bekämpfen. Das Verwaltungsgericht hat dies - obwohl es nach den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben geboten gewesen wäre ( vgl. 1. a ) - nicht in den Blick genommen; es hat vielmehr die vom Beschwerdeführer zu 1. erlittene Behandlung - ohne erkennbare Würdigung der besonderen Umstände - als ordnungsrechtliche Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung beurteilt und damit als nicht asylbegründend erachtet.

Das Verwaltungsgericht ist der Frage, ob die dem Beschwerdeführer zu 1. widerfahrenen staatlichen Maßnahmen härter als diejenigen zur Verfolgung ähnlicher nicht politischer Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit und damit asylrelevant ( vgl. BVerfGE 80, 315 338>) gewesen sein könnten, nicht nachgegangen, weil die Beschwerdeführer hierfür nichts dargelegt hätten; auch aus der allgemeinen Lageerkenntnis sei dies nicht erkennbar. Dies Begründung kann sich nicht auf eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Grundlage stützen.

Da es sich bei den geschilderten Maßnahmen nach dem objektiven Geschehensablauf, wie auch vom Verwaltungsgericht indirekt durch den Vorwurf fehlender Darlegung eingeräumt, jedenfalls um Akte politischer Verfolgung handeln kann, wäre es Sache des Verwaltungsgerichts gewesen, diesem wesentlichen Vorbringen nachzugehen. Der sich schon aus § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergebenden umfassenden Verpflichtung des Gerichts, von Amts wegen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, kommt vorliegend im Hinblick auf Art. 16 a Abs. 1 GG verfassungsrechtliches Gewicht zu.