OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11.12.1998 - A 1 S 394/98 - asyl.net: R354
https://www.asyl.net/rsdb/R354
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Kurden, Gruppenverfolgung, Vorverfolgung, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Gebietsgewalt
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Beklagte hat zu Unrecht die Feststellung getroffen, daß in der Person des Beigeladenen die Voraussetzungen eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und er nicht in den Irak abgeschoben werden darf.

Der Beigeladene war im Zeitpunkt seiner Ausreise im Juli 1997 wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe keiner (landesweiten) politischen Verfolgung ausgesetzt.

Es kann auch nicht festgestellt werden, daß der Beigeladene aus individuellen Gründen politische Verfolgung erlitten hat oder ihm eine solche vor der Ausreise unmittelbar bevorstand. Das von dem Beigeladenen geschilderte Fluchtschicksal ist völlig unglaubhaft.

Dem damit unverfolgt ausgereisten Beigeladenen droht zwar grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung i.S.d. § 51 Abs. 1 AuslG wegen seiner Asylantragstellung als einem sog. subjektiven Nachfluchtgrund. Ihm steht jedoch im Nordirak nach den besonderen Umständen des Falles eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Nach Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts (v. 30.6.1998 an VG Aachen) sowie von amnesty international (v. 11.12.1996 an VG Sigmaringen) muß ein irakischer Asylbewerber, der aus dem von der Zentralregierung beherrschten Gebiet stammt, bei seiner Rückkehr mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen rechnen, weil die Asylantragstellung von den irakischen Sicherheits- und Justizorganen als grober Akt der Illoyalität gegenüber dem irakischen Staat angesehen und als Ausdruck einer regimefeindlichen oppositionellen Haltung aufgefaßt wird.

Darüber hinaus kann die Asylantragstellung für Rückkehrer auch strafrechtliche Konsequenzen haben. Eine solche Bestrafung kann an eine zumindest vermutete politische Überzeugung anknüpfen und beinhaltet dann eine politische Verfolgung. Demgegenüber ist dem irakischen Regime nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (v. 31.8.1998) bewußt, daß es sich bei irakischen Asylbewerbern vielfach um Wirtschaftsflüchtlinge handelt und deshalb Verfolgungsmaßnahmen wegen bloßer Asylantragstellung (bei Wirtschaftsflüchtlingen) nicht wahrscheinlich sind, sofern nicht besondere Umstände vorliegen. Andererseits hebt das Auswärtige Amt jedoch wiederum hervor, daß die Handlungsweise der irakischen Sicherheitsdienste offensichtlich willkürlich ist und mangels Erfahrungswerten hinsichtlich abgeschobener oder zurückgekehrter Asylantragsteller eine generelle Aussage des Umgangs mit ehemaligen Asylbewerbern im Irak kaum getroffen werden kann. Dem entspricht die Aussage des Deutschen Orient-Instituts (v. 30.6.1998 an VG Aachen), wonach konkrete Informationen über das Schicksal zurückkehrender Asylbewerber nicht vorliegen.

Bei dieser Sachlage hält der Senat eine politische Verfolgung wegen einer Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland für beachtlich wahrscheinlich. Insbesondere wegen der Unberechenbarkeit des irakischen Machtapparates, der schon bei dem geringsten Verdacht einer regimekritischen Einstellung tätig wird und völlig unsystematisch vorgeht, stellen sich die für eine politische Verfolgung sprechenden Umstände nach Einschätzung des Senats insgesamt gewichtiger dar als die dagegen sprechenden Tatsachen. Nach der aufgezeigten Erkenntnislage und einer am Gewicht des gefährdeten Rechtsgutes zu orientierenden (qualifizierenden) Betrachtungsweise muß ein vernünftig denkender Mensch in der Lage des Asylsuchenden eine ernsthafte Verfolgungsfurcht wegen der Asylantragstellung hegen.

Der Beigeladene ist aber wegen seiner Asylantragstellung im Nordirak vor einer Verfolgung durch das zentralirakische Regime hinreichend sicher.

Das wirtschaftliche Existenzminimum als weitere Voraussetzung für das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative ist nach Einschätzung des Deutschen Orient-Institutes allerdings für ortsfremde Kurden, die im Nordirak über keine gesellschaftlich-familiären Bindungen verfügen bzw. kein Barvermögen in beträchtlicher Höhe besitzen, nicht gegeben.

Nach Auffassung des Senats liegen im Falle des Beigeladenen die wirtschaftlichen Verhältnisse einer inländischen Fluchtalternative vor. Er stammt aus der unweit vom Nordirak liegenden Stadt K., so daß Verbindungen in den Nordirak naheliegen. Zwar hat er bei seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung angegeben, über keine familiären Bindungen im Nordirak zu verfügen. Dieser Aussage vermag der Senat angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Streitverfahrens jedoch keinen Glauben zu schenken. Die Angaben des Beigeladenen zu seinem persönlichen Verfolgungsschicksal sind entsprechend den obigen Ausführungen in einem solchen Maße wahrheitswidrig, daß auch seine Ausführungen zu fehlenden familiären oder sonstigen Beziehungen in den Nordirak als unglaubhaft anzusehen sind. Nach alledem geht der Senat davon aus, daß im Falle des Beigeladenen die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative gegeben sind mit der Folge, daß ein Abschiebungsschutz gem. § 51 Abs. 1 AuslG ausscheidet.