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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 - BVerwG 9 C 4.99 - asyl.net: R5214
https://www.asyl.net/rsdb/R5214
Leitsatz:

Einem Ausländer darf die Abschiebung auch dann in den Zielstaat insgesamt angedroht werden, wenn er dort nur in bestimmten Gebieten sicher ist. (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurden, Sulaimaniya, Musiker, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Islamisten, Interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Interne Fluchtalternative, Gebietsgewalt, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung, Reiseweg
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 50 Abs. 2
Auszüge:

Einem Ausländer darf die Abschiebung auch dann in den Zielstaat insgesamt angedroht werden, wenn er dort nur in bestimmten Gebieten sicher ist. (amtlicher Leitsatz)

Mit der Revision macht der Kläger geltend, im Irak drohe ihm aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen politische Verfolgung. Die Abschiebung in diesen Staat dürfe ihm daher nicht angedroht werden. Die Androhung der Abschiebung in den "Nordirak" sei nicht zulässig, weil es sich insoweit nicht um einen Staat handele und das Ziel der Abschiebung zudem nicht hinreichend bestimmt sei.

Die Revision ist begründet. Die Berufungsentscheidung verletzt Bundesrecht.

Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG ausschließlich mit der Erwägung verneint, daß ihm bei seiner Rückkehr in den Nordirak mangels dort vorhandener effektiver staatlicher oder staatsähnlicher Gewalt keine politische Verfolgung drohen könne. Es hat dabei weder geprüft, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist, noch ob er im Falle seiner Rückkehr in andere Landesteile seines Heimatstaates Irak staatlicher Verfolgung ausgesetzt wäre. Das Berufungsgericht durfte dies zwar alles ungeprüft lassen, hätte den Kläger dann aber nur unter der Voraussetzung auf den Nordirak als sicheren Landesteil verweisen können, daß dort alle Bedingungen einer innerstaatlichen Fluchtalternative erfüllt sind. Die Prüfung nach Maßgabe der Grundsätze einer innerstaatlichen Fluchtalternative wäre deshalb geboten gewesen, weil das Berufungsgericht - wollte es seine Entscheidung allein auf Feststellungen zu den politischen Verhältnissen im Nordirak stützen - jedenfalls eine regionale Verfolgung des Klägers im Zentralirak hätte unterstellen müssen. Denn für die Prognose, ob dem Ausländer bei der Rückkehr in den Heimatstaat politische Verfolgung droht, muß das gesamte Staatsgebiet in den Blick genommen werden, auch wenn er aus dem als sicher angesehenen Landesteil - hier dem Nordirak - stammt. Da das Berufungsgericht weder die geltend gemachte Rückkehrverfolgung des Klägers mit Blick auf den Gesamtirak noch die Möglichkeit seiner Verweisung auf den Nordirak nach Maßgabe der Grundsätze einer inländischen Fluchtalternative geprüft hat, steht seine Entscheidung nicht im Einklang mit der angeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteile des Senats v. 5.10.1999 - BVerwG 9 C 15.99 -, zum Abdruck in der Entscheidungssammlung vorgesehen, und vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - BVerwGE 108, 84).

Die Berufungsentscheidung zu § 51 Abs. 1 AuslG erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen, den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des Berufungsgerichts, auf deren Grundlage es Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG im Hinblick auf den Nordirak abgelehnt hat, reichen nicht aus, um im Revisionsverfahren zu Lasten des Klägers annehmen zu können, er sei in diesem Gebiet hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wie es eine inländische Fluchtalternative voraussetzt.

Da die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts auch eine stattgebende Entscheidung nicht tragen, verweist der Senat das Verfahren an das Berufungsgericht zurück (§ 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwGO). Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Berufungsgericht eine Verpflichtung nach § 51 Abs. 1 AuslG nur aussprechen können, wenn es zu dem - bisher lediglich unterstellten - Ergebnis gelangt, daß die Ausreise und Asylantragstellung des Klägers oder sein individueller Verfolgungsvortrag die Annahme politischer Verfolgung bei seiner Rückkehr in den Irak überhaupt rechtfertigen. Ist dies der Fall, kommt der Nordirak als inländische Fluchtalternative allerdings nur dann in Betracht, wenn der Kläger dort nach der tatrichterlichen Prognose auf absehbare Zeit vor einem Verfolgungszugriff durch den irakischen Staat - und auch vor Anschlägen seiner Agenten (zur Verfolgungstauglichkeit dieser Maßnahmen vgl. Urteil des Senats vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - a.a.O.) - hinreichend sicher ist. Dagegen könnte sich der Kläger grundsätzlich nicht auf sonstige im Nordirak drohende Nachteile berufen, da er von dort ausgereist ist, diese Nachteile also nicht verfolgungsbedingt sein düften (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - BVerwG 9 C 43.96 - BVerwGE 105, 204 211 ff.>).

Stünde die hinreichende Sicherheit des Klägers im Nordirak fest, dürfte er auf dieses Gebiet als inländische Fluchtalternative gleichwohl nur dann verwiesen werden, wenn er es - was er bestreitet - ohne unzumutbare Gefährdungen tatsächlich erreichen könnte (BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 - BVerwG 9 C 59.92 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 162, S. 389 und ebenso zu § 53 Abs. 6 AuslG Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265 277 f.>; Urteil vom 2. September 1997 - BVerwG 9 C 40.96 - BVerwGE 105, 187 194>). Der Nordirak wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als inländische Fluchtalternative hierbei allerdings nicht schon dann ausgeschlossen, wenn es keine Abschiebemöglichkeit in das sichere Gebiet gäbe, sofern es der Kläger in zumutbarer Weise freiwillig erreichen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 154 f.> sowie wiederum zu § 53 Abs. 6 AuslG BVerwG, Urteil vom 15. April 1997, a.a.O., S. 278; Urteil vom 2. September 1997, a.a.O.).

Wegen der Zurückverweisung der Sache hinsichtlich des Hauptantrages erübrigt sich die revisionsgerichtliche Überprüfung des Verpflichtungsbegehrens des Klägers auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG, das nur hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag zu § 51 Abs. 1 AuslG zur Entscheidung gestellt ist.

Dem Senat ist es schließlich auch verwehrt, über die Anfechtung der Abschiebungsandrohung abschließend zu entscheiden, da noch offen ist, ob dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG im Hinblick auf den Irak zusteht oder Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 Abs. 1, 2, 4 AuslG vorliegen. Allerdings ist die Abschiebungsandrohung entgegen der Auffassung der Revision nicht schon deshalb rechtswidrig, weil darin als Abschiebungsziel "Irak (Nordirak)" angegeben ist; denn sie ist so auszulegen, daß damit - im Ergebnis zutreffend - der Irak als Zielstaat der Abschiebung bestimmt ist. Eine Beschränkung der Abschiebungsandrohung auf das sichere Teilgebiet des Abschiebezielstaates ist bundesrechtlich nicht vorgesehen.

Die Benennung des Irak als Zielstaat der Abschiebung ohne Einschränkung auf einen sicheren Gebietsteil ist auch dann nicht zu beanstanden, wenn der Kläger, wie oben zu § 51 Abs. 1 AuslG unterstellt, im Zentralirak politische Verfolgung zu befürchten hätte und nur im Nordirak sicher sein sollte. § 50 Abs. 2 AuslG gebietet weder in Fällen regionaler (oder örtlich begrenzter) politischer Verfolgung noch bei nicht landesweit bestehenden Abschiebungshindernissen im Sinne des § 53 Abs. 1, 2 oder 4 AuslG, die Abschiebungsandrohung auf das sichere Teilgebiet des Abschiebezielstaats zu beschränken.