VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 22.05.2000 - 15 B 98.31916 - asyl.net: R8532
https://www.asyl.net/rsdb/R8532
Leitsatz:

Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Beigeladenen bei einer Rückkehr in den Zentralirak wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise politische Verfolgung.

(Leisatz der Redaktion

Schlagwörter: Irak, Kurden, Mosul, Aqra, Geheimdienst, Sippenhaft, Bruder, Haft, Misshandlungen, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Nordirak, Gebietsgewalt, Interne Fluchtalternative, Amnestie, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Beweislast, Reisewege
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Beigeladene hat keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG.

Dem Beigeladenen droht wegen der angeblichen Geschehnisse vor seiner Ausreise keine politische Verfolgung. Seine Angaben beim Grenzschutzamt Frankfurt a. Main und beim Bundesamt sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Mit Blick auf die - im folgenden im Einzelnen dargestellte - Omnipräsenz und Effektivität der irakischen Sicherheitsbehörden im Zentralirak ist es wenig plausibel, dass diese vier Jahre nach dem Verschwinden des jüngeren Bruders des Beigeladenen von dessen illegaler Ausreise Kenntnis erhalten und den Beigeladenen verhört haben sollen. Unrealistisch ist auch die Behauptung des Beigeladenen, seine Freilassung auf Kaution sei mit der Auflage verbunden gewesen, seinen - immerhin seit vier Jahren verschwundenen - Bruder innerhalb von nur zwei Tagen dem Geheimdienst zu übergeben, und dass es gegen den Beigeladenen - wohl in dieser Angelegenheit - einen "Hinrichtungsbefehl" gegeben haben soll.

Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Beigeladenen bei einer Rückkehr in den Zentralirak wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise politische Verfolgung.

Vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen, bedingungslose Anpassung mit allen Mitteln fordernden Staatswesens ist davon auszugehen, dass die irakischen Sicherheits- und Justizbehörden das Stellen des Asylantrags als Herabsetzung des Irak und seiner Institutionen bewerten und dementsprechend als politisch unerwünschtes, oppositionelles Verhalten einstufen und bestrafen werden.

Einer Strafverfolgung ist der Beigeladene mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch deshalb ausgesetzt, weil er sein Heimatland illegal verlassen hat. Irakische Staatsangehörige dürfen generell ohne Ausreisegenehmigung staatlicher Behörden den Irak nicht verlassen. Auch wenn der Beigeladene für seine Ausreise bei Zakho über den "offiziellen" Grenzübergang Ibrahim-Khalil/Habur von den KDP-Stellen Ausreisepapiere erhalten haben sollte, betrachtet der irakische Staat einen solchen Grenzübertritt (Entsprechendes gilt für die Wiedereinreise) als illegal. Sämtliche Erkenntnisquellen gehen davon aus, dass die illegale Ausreise aus dem Irak mit Strafe bedroht ist.

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung des Beigeladenen wegen seines Asylantrages und seiner illegalen Ausreise bestehen auch in Ansehung von Amnestien. Angesichts der in der Vergangenheit wiederholt erkennbar gewordenen willkürlichen, jedenfalls aber unzuverlässigen Handhabung von irakischen Amnestien ist die bereits im Lagebericht vom 25. Oktober 1999 (S. 9 f.) zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber diesem Dekret gerechtfertigt.

Dem Beigeladenen ist zwar eine Rückkehr in den zentralirakischen Herrschaftsbereich wegen regionaler politischer Verfolgung nicht zumutbar. Im Nordirak ist er jedoch auf absehbare Zeit vor politischer Verfolgung hinreichend sicher; auch die weiteren Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative sind dort erfüllt.

Im Nordirak ist der Beigeladene vor politischer Verfolgung seitens des irakischen Regimes hinreichend sicher, weil dieses Staatsgewalt dort derzeit nicht ausübt und auf absehbare Zeit nicht ausüben kann.

Dem Beigeladenen droht im Nordirak auch keine politische Verfolgung durch Anschläge irakischer Agenten, weil er nicht zu einem gefährdeten Personenkreis gehört.

Die Eignung des Nordirak als inländische Fluchtalternative für den Beigeladenen ist auch in absehbarer Zeit nicht in Frage gestellt. Es liegen insbesondere keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das Bagdader Regime in einem absehbaren Zeitraum eine effektive und stabile Gebietsgewalt über die nordirakischen Kurdengebiete wiedererlangen könnte.

Dem Beigeladenen drohen bei einer Zuflucht im Nordirak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine anderen, die Annahme einer inländischen Fluchtalternative ausschließenden existenziellen Gefahren im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Im Verhältnis zu den beiden großen kurdischen Parteien PUK und KDP schadet sich ein irakischer Flüchtling durch einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht.

Ob etwaige Gefahren durch grenzüberschreitende Militäraktionen der türkischen Agenten im Nordirak gegen die PKK oder der iranischen Armee, oder ob Gefahren durch bewaffnete Auseinandersetzungen, insbesondere kleinerer Gruppen mit spezifisch ideologischem (kurdische Kommunisten, PKK), religiösem (kurdische Islamisten; vgl. hierzu DOI, Stellungnahme vom 06.12.1999 an VG Ansbach, S. 4) oder ethnischem Charakter (Suchiclan, Assyrer, Turkmenen) untereinander sowie mit KDP und PUK auch im Gebiet der inländischen Fluchtalternative nur dann zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG führen, wenn sie einem Träger staatsähnlicher Gewalt im Nordirak zuzurechnen wären, kann offen bleiben. Derartige Gefahren sind vom Beigeladenen nicht dargetan. Auch sonst ist nicht erkennbar geworden, dass der Beigeladene mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Bewohner des Nordirak einer solchen Gefahr ausgesetzt ist.

Dem Beigeladenen fehlt bei einer Zuflucht im Nordirak nicht das zum Überleben notwendige wirtschaftliche Existenzminimum. Nach der im Kern übereinstimmenden Einschätzung aller fachkundigen Stellen kann im Nordirak ein ortsfremder Kurde, der dort nicht länger gelebt hat, über keine gesellschaftlich-familiären Bindungen verfügt oder kein Barvermögen in beträchtlicher Höhe besitzt, dort nicht leben ohne in existenzielle Not zu geraten.

Der Beigeladene ist nach seinen Angaben vor dem Bundesamt am 31. Juli 1968 in Aqra (im derzeitigen KDP-Gebiet geboren. Es bestehen gewisse Anhaltspunkte dafür, dass der Beigeladene noch über verwandtschaftliche Beziehungen zum Nordirak verfügt.

Eine zur Klärung dieser Frage wesentliche persönliche Befragung des Beigeladenen im Berufungsverfahren war jedoch nicht möglich, weil er - wie im Berufungsverfahren bekannt wurde - seit zwei Jahren unbekannten Aufenthaltes ist und weder Bemühungen seines Bevollmächtigten noch des Gerichts, die aktuelle Anschrift des Beigeladenen zu erhalten, zum Erfolg führten. Die Nichtaufklärbarkeit der Frage des wirtschaftlichen Existenzminimums geht zulasten des Beigeladenen, der sich auf das Fehlen des wirtschaftlichen Existenzminimums beruft.

Abschiebungsschutz muss dem Beigeladenen schließlich auch nicht wegen fehlender zumutbarer Erreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative zuerkannt werden.