OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 17.05.2000 - 3 KO 202/97 - asyl.net: R8533
https://www.asyl.net/rsdb/R8533
Leitsatz:

Albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo steht wegen der militärischen Präsenz der KFOR-Truppen und der aufgebauten UN-Zivilverwaltung in diesem Landesteil, der staatsrechtlich noch zu Rest-Jugoslawien gehört, eine inländische Fluchtalternative offen. (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Jugoslawien, Kosovo, Albaner, Gruppenverfolgung, Gebietsgewalt, KFOR-Truppen, UNMIK, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Medizinische Versorgung, Sicherheitslage, D (A), Verfahrensrecht, Rechtsmittelantrag, Auslegung, Anfechtung, Bundesbeauftragter, Berufungszulassungsantrag, Streitgegenstand, Berufungsbegründung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Zur Überzeugung des Senates sind zurückkehrende Kosovo-Albaner im Kosovo indessen vor politischer Verfolgung durch den restjugoslawischen Staat sicher; auch sonstige existenzbedrohende Nachteile und Gefahren haben sie nicht zu befürchten.

Für das vorliegende Verfahren kommt es gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an. Die Provinz Kosovo stellt danach derzeit und auf absehbare Zeit für die albanischen Volkszugehörigen aus dieser Region eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien dar (vgl. bereits Urteile des Senats vom 11. November 1999 - 3 KO 399/96 - Asylmagazin 2000, 24, vom 2. Dezember 1999 - 3 KO 350/96 -, vom 9. Dezember 1999 - 3 KO 401/96 - NVwZ-Beilage I 6/2000, S. 69; fortgeführt mit Urteil vom 17. Februar 2000 3 KO 948/96 -).

Im Anschluß an diese Entscheidungen geht der Senat von folgenden Feststellungen aus:

Die Verweisung auf die inländische Fluchtalternative scheidet zunächst nicht wegen der faktisch vollzogenen Abtrennung des Kosovo vom jugoslawischen Staatsverband im Zuge der Übernahme der Militärgewalt durch die KFOR-Truppen und die UN-Zivilverwaltung aus. Erst wenn der Staat in einer Region die Gebietsherrschaft - etwa durch Annexion oder Sezession - endgültig verliert, wird eine Region asylrechtlich zum Ausland und kann nicht mehr inländische Fluchtalternative sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 17/98 - NVwZ 1999, 544 = AuAS 1999, 166).

Diese Voraussetzungen liegen für den Kosovo nicht vor. Weder hat sich der Kosovo für unabhängig erklärt (was auch erklärtermaßen nicht Ziel der UN-Mission ist) noch hat ein dritter Staat die Provinz Kosovo annektiert. Vielmehr gehört der Kosovo trotz der internationalen Truppenpräsenz nach wie vor zur Bundesrepublik Jugoslawien. Durch die Übernahme der Kontrolle durch KFOR- Truppen ist die staatliche Bindung an die Bundesrepublik Jugoslawien nicht gelöst worden. Vielmehr ist der Status der Provinz Kosovo als Teil der Bundesrepublik Jugoslawien auch nach dem Militärabkommen zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien unangetastet geblieben (Auszug aus dem Wortlaut des Militärabkommens in der Süddeutschen Zeitung - SZ vom 11. Juni 1999).

Nach dem Einmarsch der KFOR (Kosovo-Force)-Truppen ab Mitte 1999 und der Implementierung einer unter Kontrolle der Vereinten Nationen - UN - stehenden Zivilverwaltung ist eine politische Verfolgung der Kosovo-Albaner ausgeschlossen.

Die vor dem Einmarsch der KFOR-Truppen als Verfolger der albanischen Bevölkerungsgruppe in Frage kommenden serbisch-jugoslawischen Militär- und Polizeieinheiten sind Ende Juni 1999 vollständig aus der Provinz Kosovo abgezogen (dpa vom 20. Juni 1999) und üben seitdem im Kosovo keine staatliche Macht mehr aus. Vielmehr hat der von den Vereinten Nationen eingesetzte Verwalter des Kosovo eine eigene Zivilverwaltung für den Kosovo aufgebaut (UNMIK-United Nations Interim Administration Mission Kosovo). Insgesamt besteht die UN-Mission im Kosovo aus vier Säulen: Flüchtlingsrückkehr, Allgemeine Verwaltung, Demokratie und Menschenrechte sowie Wiederaufbau (ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 8. Dezember 1999; Lagebericht der UN, Stand: 27. Dezember 1999 (im Internet unter www.unorg/peace/kosovo/pages/answers.htm bzw. www.unorg/peace/kosovo/six_months). Militärisch gesichert wird dieser regionale Herrschaftsbereich unter UN-Verantwortung von den multinationalen Einheiten der KFOR.

Von den zum Ende des Krieges aus dem Kosovo Geflüchteten waren bis zum Stichtag 15. Oktober 1999 ca. 800.000 Flüchtlinge wieder dorthin zurückgekehrt. Die UNMIK ist in allen Bereichen des täglichen Lebens präsent. Der Ausbau der Verwaltungs- und Versorgungsstrukturen durch die UNMIK hat nach den in das Verfahren eingeführten Lageberichten der UN-Mission vom 15. Oktober 1999 und vom 27. Dezember 1999 einen Stand erreicht, der es rechtfertigt, von einem staatsähnlichen Gebilde im Kosovo zu sprechen, das die Sicherheit der dort lebenden Kosovo-Albaner gewährleistet.

Aus den übersetzten Berichten ergibt sich im wesentlichen: ...

Auch die humanitäre Hilfe der UNMIK, insbesondere die Nahrungsmittelhilfe für die Bevölkerung, ist flächendeckend funktionsfähig. Durch die Aktivitäten humanitärer Organisationen und der UNMIK werden jedenfalls Unterkunft und Ernährung - wenn auch regional unterschiedlich - ausreichend zur Verfügung gestellt (SZ vom 1. und 29. Juli 1999). Durch Lebensmittelspenden der Hilfsorganisationen wird die Versorgung der Rückkehrer gewährleistet (Gesellschaft für bedrohte Völker an VGH Baden-Württemberg vom 6. September 1999). Die UN arbeitet mit all ihren Unterorganisationen im Kosovo: Das sind UNHCR (Weltflüchtlingsorganisation), WFP (Welternährungsprogramm), UNICEF (Weltkinderhilfswerk) und WHO (Weltgesundheitsorganisation). Dazu kommen ca. 45 Nichtregierungsorganisationen, die humanitäre Hilfe im Kosovo leisten. Die Organisationen haben zur Erfüllung ihrer Aufgaben bereits mehr als 500 Millionen US-Dollar erhalten.

Zwischen 650.000 und 900.000 Menschen erhalten durch das Welternährungsprogramm Nahrungsmittelhilfe (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Lagebericht Kosovo vom 20. November 1999, S. 7). Von Juni - Dezember 1999 waren mehr als 82.000 Tonnen Lebensmittel im Kosovo eingetroffen (Lagebericht der UN vom 27. Dezember 1999, Säule 1, Seite 2). Für den Winter 1999/2000 wurden durch die Hilfsorganisationen insgesamt 50.000 sogenannter Unterkunftsbausätze für beschädigte Häuser verteilt. Andere Hilfsorganisationen verteilten Sanierungsbausätze, sowie Material zur Reparatur beschädigter Häuser.

Der UNHCR errichtete Fertigunterkünfte und provisorische Gemeinschaftsunterkünfte (übersetzter UNHCR-Lagebericht, Stand 15. Dezember 1999 im Internet unter www.unhcr.ch/news/media/Kosovo/latest.htm). Aufgrund dieser Hilfsmaßnahmen überstand die kosovarische Bevölkerung den letzten Winter - soweit ersichtlich - ohne gravierende Versorgungsengpässe (vgl. auch SFH, a.a.O., einleitende Zusammenfassung). Die Infrastruktur ist in einem Zustand, der es erlaubt, Hilfsgüter in ausreichender Menge in den Kosovo zu transportieren und zu verteilen.

Die medizinische Grund- und Erstversorgung im Kosovo ist gewährleistet und hat bereits wieder Vorkriegsniveau erreicht (AA an VG Sigmaringen vom 15, Februar 2000). 250 Ambulanzen zur medizinischen Erstversorgung sowie 26 Ärztehäuser (Gesundheitseinrichtungen mit medizinischer Erstversorgung und Versorgungsleistung durch Fachärzte) sind wieder dienstbereit. Zudem betreiben internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO s) im Kosovo 15 mobile Einsatzteams. Dienstbereite Krankenhäuser gibt es wieder in Pristina, Mitrovica, Gnjilane, Pec, Prizren, Djakova sowie ein Institut für geistig Behinderte in Shtimje.

Es gelang, die Bevölkerung ohne den Ausbruch von befürchteten Epidemien über den Winter zu bringen. Nach der Nothilfe-Phase des letzten Winters ist für das laufende Jahr eine generelle Konsolidierung der medizinischen Primär- und Sekundärversorgung, die Durchführung von Impfkampagnen sowie die Verbesserung der Medikamentenversorgung geplant (SFH, a.a.O., Seite 23).

Berücksichtigt man diese Umstände eines weitreichenden Aufbaus staatsähnlicher Strukturen durch die UN, nicht zuletzt auch im Bereich der Grundversorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigsten, drohen der rückkehrenden albanisch- stämmigen Bevölkerung des Kosovo auch keine existenzbedrohenden sonstigen unzumutbaren Gefahren und Nachteile, die den Status des Kosovo als inländische Fluchtalternative in Frage stellen könnten.

Schließlich gibt es ebensowenig Anhaltspunkte dafür, daß sich - auf absehbare Zeit - die tatsächlichen Verhältnisse im Kosovo grundlegend ändern könnten und deshalb im Ergebnis die Rückkehr nicht zumutbar ist.

Die internationale Zivil- und Sicherheitspräsenz im Kosovo war zwar zunächst auf 12 Monate befristet, jedoch bezeichnet die UN-Resolution dieses erste Jahr ausdrücklich als "Anfangsperiode" und sieht im Übrigen vor, daß die internationale Präsenz solange fortgeführt wird, bis der Sicherheitsrat anders darüber entscheidet (vgl. den Wortlaut der UN-Resolution in der NZZ vom 12. Juni 1999). Für eine solche - die Resolution abändernde - Entscheidung gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte. Die KFOR-Truppen selbst gehen von einer mindestens fünfjährigen Präsenz im Kosovo aus (dpa vom 12. September 1999 und vom 29. Dezember 1999).

Für die zurückkehrende albanische Bevölkerung besteht nach alledem auch eine ausreichend dauerhafte Sicherheitslage dergestalt, daß aufgrund der Truppenpräsenz der KFOR- Truppen und der Sicherheitskräfte der UN im Kosovo die Sicherheit der albanischstämmigen Bevölkerung gegeben ist.