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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 19.09.2000 - 9 C 12.00 - asyl.net: R9326
https://www.asyl.net/rsdb/R9326
Leitsatz:

1. Der Widerruf einer - rechtmäßigen oder rechtswidrigen - Anerkennung als politisch Verfolgter (hier nach § 51 Abs. 1 AuslG) ist nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG nur zulässig, wenn sich die für die Beurteilung der Erfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich geändert haben. Eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügt nicht.

2. § 73 Abs. 2 AsylVfG regelt die Rücknahme einer rechtswidrigen Anerkennung nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG nicht abschließend, sondern lässt Raum für eine ergänzende Anwendung des § 48 VwVfG.

Schlagwörter: Irak, Kurden, Nordirak, freiwillige Ausreise, Besuchsreisen, Interne Fluchtalternative, D (A), Verfahrensrecht, Abschiebungsschutz, Widerruf, Änderung der Sachlage, Rücknahme, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 73; VwVfG § 48; VwVfG § 49
Auszüge:

1. Der Widerruf einer - rechtmäßigen oder rechtswidrigen - Anerkennung als politisch Verfolgter (hier nach § 51 Abs. 1 AuslG) ist nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG nur zulässig, wenn sich die für die Beurteilung der Erfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich geändert haben. Eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügt nicht.

2. § 73 Abs. 2 AsylVfG regelt die Rücknahme einer rechtswidrigen Anerkennung nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG nicht abschließend, sondern lässt Raum für eine ergänzende Anwendung des § 48 VwVfG.

(Amtliche Leitsätze)

Nicht mit Bundesrecht vereinbar ist die Auffassung des Berufungsgerichts, der angefochtene Widerrufsbescheid könne schon deshalb nicht auf die §§ 48, 49 VwVfG gestützt werden, weil die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme einer Asylanerkennung in § 73 AsylVfG abschließend geregelt seien. Jedenfalls die Rücknahmevorschrift des § 48 VwVfG findet neben § 73 AsylVfG Anwendung.

Die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts über Rücknahme und Widerruf ( §§ 48, 49 VwVfG) gelten neben den spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG über die Aufhebung von Asylanerkennungen und Feststellungen von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG, soweit diese Raum dafür lassen. Ob § 73 Abs. 1, 2 AsylVfG den Widerruf und die Rücknahme von Asylanerkennung abschließend regelt und so die §§ 48, 49 VwVfG vollständig verdrängt, hat das Bundesverwaltungsgericht bisher ausdrücklich offen gelassen (BVerwG, Beschlüsse vom 27. Juni 1997 - BVerwG 9 B 280.97 - a.a.O. und vom 21. März 1990 - BVerwG 9 B 276.89 - NVwZ 1990, 774 zur Vorgängervorschrift des § 16 AsylVfG 1982; ebenso VGH Mannheim, urteil vom 23. November 1999 - A 6 S 1974/98 - <juris>; Kopp/Ramsauer, VwVfG 7. Aufl. 2000, § 48 Rn. 14). Der Senat entscheidet diese Frage entgegen der - nicht begründeten - überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 29. März 2000, a.a.O.; VGH München, Urteil vom 1. Dezember 1998, a.a.O.; Marx AsylVfG, 4. Aufl. 1999, § 73 Rn. 5; Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 73 AsylVfG Rn. 3, 21) nunmehr dahin, dass § 73 AsylVfG die Rücknahme von Anerkennungsbescheiden nicht abschließend regelt.

Das Berufungsgericht hat danach zu Unrecht schon wegen des vermeintlich abschließenden Charakters der Rücknahmebestimmung in § 73 Abs. 2 AsylVfG nicht in Erwägung gezogen, ob § 48 VwVfG als mögliche Rechtsgrundlage zur Aufrechterhaltung des angefochtenen Widerspruchbescheids in Betracht kommt. Das Berufungsurteil erweist sich dennoch als im Ergebnis richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), auch wenn man mit dem Berufungsgericht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG im Ausgangsbescheid für rechtswidrig hält. Das ist freilich nicht schon deshalb der Fall, weil die etwaige Umdeutung (§ 47 VwVfG) des Widerrufs in einen Rücknahmebescheid oder der bloße Austausch der Rechtsgrundlage mit § 48 VwVfG an einer Verfristung der Rücknahme scheitern würde. Denn die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG beginnt u.a. erst dann zu laufen, wenn die für die Rücknahme zuständige Behörde die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsakt erkannt hat (StRspr; BVerwG, Beschluss des Großen Senats vom 19. Dezember 1984 - BVerwG Gr.Sen. 1 und 2.84 - BVerwGE 70, 356 und Urteil vom 19. Dezember 1995 - BVerwG 5 C 10.94 - BVerWGE 100, 199 201 f.>). Dass das Bundesamt die Rechtswidrigkeit der Anerkennung bei Erlass des Widerrufsbescheids kannte, ist nicht festgestellt oder sonst ersichtlich. Es hat den Widerruf vielmehr ausdrücklich auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützt und damit begründet, dass sich die Situation im Irak "grundlegend geändert" habe, ist also offenbar davon ausgegangen, dass die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG in dem widerrufenen Bescheid rechtmäßig war.

Der angefochtene Widerrufsbescheid kann jedoch deshalb nicht auf § 48 VwVfG gestützt oder entsprechend umgedeutet werden, weil die Rücknahme eine behördliche Ermessensausübung voraussetzt, die vom Bundesamt in dem als gebundene Entscheidung ergangenen Widerrufsbescheid nicht vorgenommen wurde (vgl. § 47 Abs. 3 VwVfG).

Das in § 48 VwVfG eröffnete Rücknahmeermessen war im Falle des Klägers auch nicht auf Null reduziert, so dass die fehlende Ermessensentscheidung unschädlich wäre. Bereits der Vergleich mit der spezialgesetzlich angeordneten Rücknahmepflicht in § 73 Abs. 2 AsylVfG zeigt, dass der Gesetzgeber die anfängliche Rechtswidrigkeit in anderen Fällen nicht als so gewichtig ansieht, dass generell kein Rücknahmeermessen eingeräumt wird. Erkennt das Bundesamt die Rechtswidrigkeit einer Asylwährung oder einer Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG, steht ihm vielmehr regelmäßig ein weites, auch etwaige Erwägungen zur Verfahrensökonomie einschließendes Ermessen bei der Frage zu, ob es überhaupt ein Rücknahmeverfahren einleitet. Bei der Entscheidung über die Rücknahme hat es ferner stets auch zu erwägen, ob die Asylanerkennung mit Rückwirkung oder nur mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden soll (vgl. hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 17. August 1998 - BVerwG - 9 B 263.88 - a.a.O. zur früheren Ermessensvorschrift über den Widerruf von Asylberechtigungen in § 37 AuslG 1962). Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung bestehen danach auch im Fall des Klägers nicht.