VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.12.2000 - A 13 S 447/99 - asyl.net: R9821
https://www.asyl.net/rsdb/R9821
Leitsatz:

Hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG unmittelbar selbst festgestellt und ist diese Entscheidung rechtskräftig geworden, so kommt die Durchbrechung der Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nur in Betracht, wenn sich die Sachlage seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert hat und die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses deswegen nicht mehr vorliegen.

Ob sich die Sachlage geändert hat, beurteilt sich dabei nicht allein nach dem der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde gelegten Sachverhalt, sondern - auch - nach den damals im Verfolgerstaat tatsächlich herrschenden Verhältnissen (im Anschluß an BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12.00). (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Togo, Abschiebungshindernis, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Menschenrechtswidrige Behandlung, Abschiebungspraxis, Widerruf, Rechtskraft, Bindungswirkung, Änderung der Sachlage, Umdeutung, Rücknahme
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; VwVfG § 47; AuslG § 53 Abs. 4; VwGO § 121
Auszüge:

Hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG unmittelbar selbst festgestellt und ist diese Entscheidung rechtskräftig geworden, so kommt die Durchbrechung der Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nur in Betracht, wenn sich die Sachlage seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert hat und die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses deswegen nicht mehr vorliegen.

Ob sich die Sachlage geändert hat, beurteilt sich dabei nicht allein nach dem der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde gelegten Sachverhalt, sondern - auch - nach den damals im Verfolgerstaat tatsächlich herrschenden Verhältnissen (im Anschluß an BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12.00). (amtlicher Leitsatz)

Der Senat hat mit Urteil vom 3.7.1996 - A 13 S 578/96 -, auf das das Bundesamt in der Begründung des angefochtenen Bescheides vom 16.6.1998 u.a. Bezug genommen hat, für den Zeitpunkt seiner Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) entschieden, dass die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland und ein Auslandsaufenthalt für togoische Staatsangehörige im Hinblick auf ihr Heimatland keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG begründen. Diese Bewertung galt auch für den Zeitpunkt des Erlasses des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts vom 8.5.1995. Auch im Mai 1995 begründeten die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland und ein Auslandsaufenthalt für togoische Staatsangehörige nicht die "reale Gefahr" bzw. ein "ernsthaftes Risiko", bei der Rückkehr nach Togo der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden.

Zwar bestanden in Togo auch im Mai 1995, wie oben geschildert, weithin rechtsstaats- und menschenrechtswidrige Verhältnisse. Die Menschenrechte wurden von Polizei, Gendarmerie und Armee im Alltag trotz der gesetzlichen Garantien nicht beachtet. Insbesondere wurden von Sicherheitsbeamten begangene Menschenrechtsverletzungen weder disziplinarisch noch gerichtlich geahndet. Aber allein aus diesen rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen Zuständen folgte noch nicht die reale Gefahr einer menschenrechtswidrigen Verfolgung für jeden togoischen Staatsangehörigen. Die Stellung eines Asylantrags und ein Auslandsaufenthalt stellten keine besonderen Umstände dar, an die eine menschenrechtswidrige Behandlung durch togoische Sicherheitskräfte anknüpfte und durch die sich damit die persönliche Situation der abgeschobenen Asylbewerber von derjenigen der Mehrzahl der übrigen Bevölkerung unterschied (vgl. EGMR, Urteil v. 30.10.1991, NVwZ 1992, 869, 870).

Auch im Zeitpunkt der Senatsentscheidung ist festzustellen, dass die Durchführung eines Asylverfahrens und ein langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik für einen Togoer nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer menschenrechtswidrigen Behandlung bei seiner Rückkehr nach Togo begründen (vgl. Senatsurteil vom 13.12.2000 - A 13 S 1849/97 -).

Mit Urteilen vom 3.7.1996 - A 13 S 578/96 -, vom 5.12.1996 - A 13 S 2453/96 - und vom 27.11.1998 - A 13 S 1913/96 - hat der Senat bezogen auf den jeweiligen Zeitpunkt grundsätzlich entschieden, dass die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland und der Auslandsaufenthalt für togoische Staatsangehörige im Hinblick auf ihr Heimatland keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG begründen. Der Senat ist dabei davon ausgegangen, dass abgeschobenen togoischen Asylbewerbern allein wegen ihrer Asylantragstellung und wegen ihres Auslandsaufenthaltes, auch wenn sie hierdurch in das Blickfeld der togoischen Sicherheitskräfte gerückt sein könnten, bei einer Rückkehr nach Togo Verfolgungsmaßnahmen, insbesondere eine menschenrechtswidrige Behandlung, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. In den genannten Urteilen hat sich der Senat mit den einschlägigen Erkenntnisquellen eingehend auseinandergesetzt und er hat dabei auch die abweichenden Stellungnahmen des Instituts für Afrikakunde und von amnesty international bewertet und mit der vom Auswärtigen Amt dargestellten Auskunftslage gewichtet. An dieser Einschätzung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der im vorliegenden Verfahren zusätzlich eingeführten neueren Erkenntnisquellen und der sich daraus ergebenden Tatsachen und Bewertungen zur Gefährdung von Rückkehrern nach Togo fest.

Dass die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland und der Auslandsaufenthalt für togische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Togo keine mit Art.3 EMRK unvereinbare Behandlung durch togoische Behörden zur Folge haben, ergibt sich insbesondere auch daraus, dass es nach wie vor an belegbaren Fällen der Verfolgung und menschenrechtswidrigen Behandlung von abgeschobenen Asylbewerbern fehlt, obwohl eine große Zahl von togoischen Asylbewerbern von Deutschland abgeschoben worden ist. Dem Fehlen belegbarer Verfolgungs- und Misshandlungsfälle kommt, wie oben bereits dargelegt, im Hinblick auf abgeschobene Asylbewerber maßgebliche Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.6.1997 - 9 B 409.97 - und - 9 B 59.97 -).

Im Zeitraum nach dem Ergehen des Gerichtsbescheids vom Mai 1995 sind von verschiedenen Organisationen einige Fälle aufgeführt worden, die die Ansicht bestätigen sollen, allein die Stellung eines Asylantrags und der Auslandsaufenthalt habe für einen nach Togo abgeschobenen Togoer das ernsthafte Risiko einer mit Art. 3 EMRK nicht zu vereinbarenden Behandlung zur Folge.

Die genaue Untersuchung der geschilderten Fälle ergibt jedoch, dass sie die genannte Schlussfolgerung nicht rechtfertigen.

Stehen somit der oben dargestellten erheblichen Zahl von Abschiebungen togoischer Staatsangehöriger aus Deutschland (und aus dem übrigen Westeuropa) in den Jahren 1995 bis 2000 keine hinreichend verifizierten Referenzfälle gegenüber, in denen es zu Verfolgungsmaßnahmen gegenüber den Abgeschobenen gekommen ist, kann von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass nach Togo abgeschobene Asylbewerber allein wegen der Asylantragstellung und ihres längeren Auslandsaufenthaltes Verfolgungsmaßnahmen - insbesondere einer menschenrechtswidrigen Behandlung - ausgesetzt sein werden, nicht ausgegangen werden. Hiergegen wird eingewendet, die Natur des togoischen Willkürregimes, das durch eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet ist, führe dazu, dass Verfolgungsmaßnahmen gegenüber abgeschobenen Asylbewerbern weithin "im Dunkeln" blieben. Der Umstand, dass es keine durch eine zweite unabhängige Quelle verifizierten Referenzfälle gebe, spreche daher nicht dagegen, dass eine derartige Verfolgungsgefahr dennoch beachtlich wahrscheinlich sei (Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. a.a.O., Juli 1998, S. 20-23). Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen.

Davon, dass allein die Asylantragstellung und ein längerer Auslandsaufenthalt nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu politischer oder menschenrechtswidriger Verfolgung in Togo führen, geht schließlich auch die bisher vorliegende einschlägige Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte aus (vgl. Bay. VGH, Urteile vom 30.3.1999- 25 B 96.32032 - und - 25 BA 95.34283 -; OVG Brandenburg, Urteil vom 29.5.1997 - 4 A 175/95.A -; OVG Bremen, Urteil vom 27.5.1997 - OVG 2 B 5/97 -; OVG Hamburg, Urteil vom 19.12.1995 - OVG Bf. VII 15/95 - und Urteil vom 22.1.1999 - 1 Bf 216/98.A -; Hess. VGH, Beschluss vom 31.8.1998 - 3 UE

304/98.A -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18.5.1999 - 2 L 216/98 -; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29.7.1996 - 3 L 496/96 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 26.8.1996 - 23 A 296/95.A -, vom 14.1.1997 -23 A 2412/96.A -und vom 4.2.1999 -23 A 4891/95.A-, Beschluss vom 19.6.1998 - 23 A 4803/95.A - sowie Beschluss vom 19.04.1999 - 23 A 4894/95.A -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.12.1996 - 1 A 12657/96 -, Beschluss vom 24.8.1998 - 1 A 11047/97.0VG - sowie Urteil vom 17.6.1999 - 1 A 11403/98.0VG-; OVG Saarland, Urteil vom 26.8.1999 - 1 R 3/99 -; OVG Sachsen, Beschluss vom 10.9.1999 - A 4 S 79/97 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 27.11.1997 - A 2 14/97 -; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urteil vom 13.11.1996 - 1 L 219/96 - sowie Urteil vom 23.3.1999 - 4 L 159/98 -; Thüringer OVG, Urteil vom 25.1.2000 - 2 KO 131/97-).

Im Urteil vom 19.9.2000 (- 9 C 12.00 -, S. 7 des amtl. Umdrucks) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, "auch aus dem Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat" könne "eine erhebliche, die Pflicht zum Widerruf begründende Veränderung der Verhä!tnisse folgen". Da die Durchbrechung der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung wie der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Verfolgerstaat voraussetzt, kann die insoweit vom Bundesverwaltungsgericht angesprochene Fallgestaltung nur gegeben sein, wenn zunächst ein die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen begründendes Ereignis stattgefunden, es im Anschluss daran im Verfolgerstaat aber eine längere Zeitspanne ohne besondere Ereignisse gegeben hat. Auch die Voraussetzungen dieser Fallgestaltung der "entscheidungserheblichen Änderung der Sachlage" sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Denn die Situation in Togo ist gerade dadurch geprägt, dass wegen des Fehlens von belegbaren Referenzfällen auch zum Zeitpunkt des Ergehens des Gerichtsbescheids vom 8.5.1995 nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit bestand, dass nach Togo zurückkehrende Asylbewerber allein im Hinblick auf die Stellung eines Asylantrags und einen längeren Auslandsaufenthalt einer menschenrechtswidrigen Behandlung durch staatliche togoische Stellen unterzogen werden.

Scheidet nach den vorstehenden Ausführungen eine Durchbrechung der Rechtskraft des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 8.5.1995 mangels nachträglicher Änderung der "Sachlage" aus, so kommt die Beseitigung der Wirkungen des Gerichtsbescheids nur noch für den Fall in Betracht, dass die Aufrechterhaltung des durch die Vorentscheidung geschaffenen Zustandes "schlechthin unerträglich" wäre (BVerwGE 28, 122, 127; offengelassen im Urteil vom 8.12.1992 - 1 C 12.92 - BVerwGE 91, 256). Auch nach diesem Ansatz scheidet die Durchbrechung der Rechtskraft aus. Denn die Aufrechterhaltung der Wirkungen des rechtskräftigen Gerichtsbescheids vom 8.5.1995 ist nicht "schlechthin unerträglich". Die Besserstellung des Klägers gegenüber anderen Togoern, die mangels einer Feststellung nach § 53 Abs. 4 AuslG grundsätzlich abgeschoben werden dürfen, ist Folge davon, dass die insoweit durch den Gerichtsbescheid vom 8.5.1995 beschwerten Beteiligten gegen diesen Gerichtsbescheid im Gegensatz zu anderen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Sigmaringen hinsichtlich togoischer Staatsangehöriger kein Rechtsmittel eingelegt haben, obwohl ihnen dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Zudem beruht die rechtskräftige Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf einer an Auskünfte von anerkannten Organisationen (amnesty international, UNHCR sowie Institut für Afrikakunde) anknüpfenden und damit nicht gänzlich unvertretbaren Würdigung der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnismittel hinsichtlich der Gefährdung von nach Togo abgeschobenen Asylbewerbern, die lediglich von der später entwickelten Rechtsprechung des Senats abweicht. Ferner ist zu beachten, dass amnesty international sowie das Institut für Afrikakunde in ihren neuesten Stellungnahmen unverändert die Ansicht vertreten, abgeschobene Asylbewerber seien allein aufgrund des Asylantrags und des Auslandsaufenthaltes der beachtlichen Gefahr einer menschenrechtwidrigen Behandlung durch togoische Sicherheitskräfte ausgesetzt.