VG Sigmaringen

Merkliste
Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 03.12.2021 - A 14 K 664/21 - asyl.net: M30230
https://www.asyl.net/rsdb/default-203118d517
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für von der Al-Shabaab-Miliz zwangsrekrutiertem Mann aus Somalia:

1. Die Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab stellt eine Verfolgungshandlung dar.

2. Die Verfolgung knüpft an die politische Überzeugung des Klägers an. Durch die Weigerung, für Al-Shabaab zu kämpfen, hat er aus Sicht der Al-Shabaab seine Missbilligung gegenüber ihrem Machtstreben zum Ausdruck gebracht.

3. Die Vermutung der erneuten Verfolgung aus Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie kann nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt werden. Die Lage in Somalia hat sich zwar seit der Ausreise des Klägers geändert; selbst in Gebieten, die nicht mehr unter Kontrolle der Al-Shabaab stehen, kommt es jedoch weiterhin zu Terroranschlägen.

4. Eine inländische Fluchtalternative besteht für den Kläger nicht. Er wird sich in Somalia dem Zugriff der Al-Shabaab nicht entziehen können. Es ist nicht möglich, von Mogadischu aus relativ sichere Regionen Somalias zu erreichen, ohne sich der Gefährdung durch die Al-Shabaab auszusetzen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Bremen, Urteil vom 18.08.2020 - 7 K 804/17 - asyl.net: M29021)

Schlagwörter: Somalia, Al Shabaab, nichtstaatliche Verfolgung, Zwangsrekrutierung, Vorverfolgung, innerstaatliche Fluchtalternative, interner Schutz, Desertion,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3e Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Aufgrund der ausführlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des dort gewonnenen persönlichen Eindrucks ist die Berichterstatterin von der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers überzeugt, er sei in Somalia von Al-Shabaab aufgefordert worden, sich Al-Shabaab anzuschließen und - nachdem er dies verweigert habe - mit Gewalt abgeholt und zunächst in ein Gefängnis verbracht worden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich geschildert, wie er etwa einen Monat lang in einem Gefängnis unter prekärsten Bedingungen festgehalten und misshandelt wurde, ehe er keine andere Möglichkeit mehr sah, als einer Zusammenarbeit zuzustimmen. Noch am selben Tag wurde der Kläger intern in eine Art Trainingslager verlegt, in dem die Bedingungen zwar besser waren, er jedoch militärisch ausgebildet wurde. Nachdem dem Kläger nach etwa anderthalb Monaten mitgeteilt worden war, dass er nunmehr an die Front verlegt werde und kämpfen müsse, erbat der Kläger eine Besuchserlaubnis, um seine Mutter nochmals sehen zu können. Der Kläger wurde hierbei von einem bewaffneten Mitglied der Al-Shabaab, einem Mann namens … begleitet, der dem Kläger unterwegs vorschlug, aus Somalia zu fliehen, da er sicher davon ausging, an der Front sterben zu müssen. Die Berichterstatterin glaubt dem Kläger auch, dass er auf diesen Vorschlag eingegangen ist, eine Rückkehr zu seiner Mutter als zu gefährlich empfand und gemeinsam mit ..., der seine Waffe gegen eine Mitfahrgelegenheit eintauschte, Somalia in Richtung Äthiopien verlassen hat. [...]

Nach alledem hat der Kläger Somalia aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch die Al-Shabaab verlassen. Diese Verfolgung knüpft - entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid geäußerten Ansicht des Bundesamts - an die politische Überzeugung des Klägers an. Der Kläger wurde von Al-Shabaab gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) festgehalten. Durch die Flucht des Klägers hat er sich dem weiteren Zugriff durch Al-Shabaab verweigert und aus Sicht der Al-Shabaab damit gezeigt, dass er ihren Krieg und ihr Machtstreben nicht billigt. Ob daneben eine Verfolgung aus religiösen Gründen gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegt, weil die Al-Shabaab den Kläger als "Ungläubigen" ansieht, bedarf keiner Entscheidung.

Die Al-Shabaab stellt auch einen tauglichen Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG dar, denn der somalische Staat war und ist erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, dem Kläger vor Angriffen durch die Al-Shabaab Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten. Somalia hat den Zustand eines sog. failed state inzwischen zwar überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach und weiterhin im Aufbau befindlich (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 18. April 2021, S. 4).

Die Vermutung der erneuten Verfolgung kann nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt werden. Allerdings hat sich zwischenzeitlich die Lage in Somalia seit der Ausreise des Klägers geändert. In den von Al-Shabaab befreiten Gebieten kommt es aber weiterhin zu Terroranschlägen durch die islamistische Miliz. [...]

Da die Al-Shabaab nach wie vor aktiv ist, ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr wieder ins Fadenkreuz der Al-Shabaab geraten wird. Anhaltspunkte, die dies in Frage stellten, sind nicht ersichtlich.

Eine inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylG) besteht für den Kläger nicht. Es ist davon auszugehen, dass sich der Kläger aufgrund der noch vorhandenen Aktivität der Al-Shabaab dem Zugriff dieser Organisation in Somalia wird nicht entziehen können. Voraussichtlicher Zielort der Abschiebung ist Mogadischu (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 18. April 2021, S. 24). Dem Kläger wird es aufgrund der aktuellen Lage nicht möglich sein, von Mogadischu aus Regionen, die vergleichsweise sicher sind, wie beispielsweise Puntland oder Somaliland zu erreichen. Da er nicht ohne Gefährdung durch die Al-Shabaab dorthin gelangen kann, bedarf es keiner Entscheidung, ob er dort seine Existenz sichern könnte. [...]