Berufungszulassung zur Frage des ernsthaften Risikos einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta für Dublin-Rückkehrende wegen Push-Backs:
1. Die Frage, ob bei antragstellenden Personen, für die eine Zustimmung des Mitgliedstaates Slowenien zur Wiederaufnahme vorliegt (sogenannte Dublin-Rückkehrende) von einer Rücküberstellung abzusehen ist, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben, von Slowenien weiter abgeschoben zu werden und ihnen daher einer Verletzung ihrer Rechte aufgrund systemischer Schwachstellen aus Art. 4 GR-Charta drohe, hat grundsätzliche Bedeutung.
2. Das Verwaltungsgericht hat auf Grundlage unzureichender tatsächlicher Erkenntnisse und vor allem unter Anwendung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabs angenommen, dass Dublin-Rückkehrende in Slowenien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt sind und das Asylsystem daher unter systemischen Mängeln leidet.
(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 46/22 - asyl.net: M30976)
Siehe auch:
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Denn die Beklagte hat den Darlegungsanforderungen nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügend, nämlich unter konkreter Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten und Erkenntnismitteln des Verwaltungsgerichts, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die von ihr aufgeworfene und über den Einzelfall des Klägers hinausgehend allgemein klärungsbedürftige sowie entscheidungserhebliche Frage, "ob bei Antragstellern, für die eine Zustimmung des Mitgliedsstaates Slowenien gem. Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO vorliegt, wegen eines drohenden Verstoßes gegen den in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 19 GR-Charta und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) von einer Rück-Überstellung nach Slowenien gem. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO abzusehen ist, da Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben, von Slowenien ohne Durchführung eines Asylverfahrens in Kette weiter abgeschoben zu werden und ihnen daher eine Verletzung ihrer Rechte aufgrund systemischer Schwachstellen des Mitgliedsstaates Slowenien aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC drohe, sodass die Beklagte verpflichtet wäre, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin- III-VO durchzuführen," dargelegt. [...]
Denn das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage unzureichender tatsächlicher Erkenntnisse und vor allem unter Anwendung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabs angenommen, dass der Kläger als sogenannter Dublin-Rückkehrer in Slowenien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt ist und das Asylsystem in Slowenien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leidet, die für den Kläger mit der konkreten Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verbunden sein soll.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zu dem in sogenannten Dublin-Verfahren zu beachtenden rechtlichen Maßstab und zu den erforderlichen Tatsachenfeststellungen ausgeführt (Beschlüsse vom 19.1.2022 – 1 B 83.21 –, juris Rn. 12, und vom 7.3.2022 – 1 B 21.22 –, juris Rn. 13): [...]
Diese Vorgaben hat das Verwaltungsgericht nicht hinreichend beachtet. Denn es hat allein aus dem Umstand, dass es zu sogenannten Push-Backs an der slowenisch-kroatischen Grenze und zu Ketten-Abschiebungen ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, von Österreich und Italien über Slowenien nach Kroatien und von dort wiederum nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien gekommen sei, geschlussfolgert, dass "eine solche Verfahrensweise auch Dublin-Rückkehrern drohen könne und ihnen damit ihr Recht auf ein Asylverfahren in rechtswidriger Weise vorenthalten würde". Dabei stellt das Verwaltungsgericht bzw. das Verwaltungsgericht Braunschweig in der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung fest, dass "keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland" vorlägen. Gleichwohl nimmt das Verwaltungsgericht – ebenso wie das Verwaltungsgericht Braunschweig – im Hinblick darauf, dass nur wenige Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland dokumentiert seien, während die slowenischen Behörden nach eigenen Angaben im selben Zeitraum über 10.000 Menschen, mehrheitlich nach Kroatien, zurückgeschoben hätten, und nur vier Aufnahmeeinrichtungen mit insgesamt 401 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stünden, von denen im September 2021 nur 185 Plätze belegt gewesen seien, Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Sloweniens auch hinsichtlich von Dublin-Rückkehrern an. Insoweit weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass die Situation von aus Deutschland rücküberstellten Dublin-Rückkehrern, zu deren Wiederaufnahme sich Slowenien – wie hier – ausdrücklich bereit erklärt hat, sich deutlich von der Situation von Asylbewerbern unterscheidet, die beispielsweise im Rahmen von informellen Übernahmen zwischen Österreich bzw. Italien und Slowenien Opfer von Kettenabschiebungen geworden sind. Vor allem aber hat das Verwaltungsgericht nicht beachtet, dass von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ausgehend die (widerlegliche) Vermutung besteht, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, und deshalb konkrete Erkenntnisse darüber vorliegen müssen, dass der betreffende Mitgliedstaat diese Erfordernisse nicht beachtet, die hier jedoch vom Verwaltungsgericht hinsichtlich Dublin-Rückkehrern nicht angeführt worden sind. [...]