VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 08.06.2021 - 5 A 804/19 - asyl.net: M30301
https://www.asyl.net/rsdb/default-578b5a172e
Leitsatz:

Drohende Verletzung von Art. 3 EMRK in Bulgarien für Familie mit Kleinkind:

1. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist wegen der drohenden Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK rechtswidrig.

2. Eine anerkannte Familie mit Kleinkind wird erhebliche Schwierigkeiten haben, eine geeignete Unterkunft zu finden. In Anbetracht der Erkenntnislage wird es den Eltern auch bei überobligatorischen Anstrengungen nicht gelingen, durch eigene Erwerbstätigkeit einen angemessenen Lebensunterhalt sicherzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, Kindeswohl, besonders schutzbedürftig,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin eine Verletzung von Art. 4 GrCH, bzw. Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien zu befürchten.

Die Lage anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wie folgt dar:

International Schutzberechtigte haben in Bulgarien per Gesetz einen Anspruch auf Sozialhilfe. Bulgarien gewährt ihnen Sozialhilfeleistungen unter denselben Bedingungen und nach demselben Verfahren wie bulgarischen Staatsbürgern (Auskunft der Frau PhD Dr. Valeria Ilareva vom 27. August 2015 an den VGH Baden-Württemberg, zu Frage 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. Juli 2015 an das VG Stuttgart, zu Frage 2).

International Schutzberechtigte haben auch Zugang zum bulgarischen Gesundheitssystem. Die Versicherung im nationalen Gesundheitssystem ist grundsätzlich auch für international Schutzberechtigte zugänglich. Voraussetzung ist - wie bei bulgarischen Staatsangehörigen - die Zahlung eines monatlichen Beitrags. Im Übrigen ist nach den vorliegenden Erkenntnissen auch beim Fehlen einer Krankenversicherung die gemäß Art. 3 EMRK gebotene medizinische Notfallversorgung gegeben (vgl. Auskunft der Frau PhD Dr. Valeria Ilareva vom 27. August 2015 an den VGH Baden-Württemberg, zu Frage 5).

Die Kammer geht davon aus, dass sich die allgemeinen Lebensbedingungen für international Schutzberechtigte in Bulgarien zwar nach wie vor als schwierig darstellen. Bulgarien verfügt - im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland - über kein ausdifferenziertes Sozialsystem, sondern ist durch eigenverantwortliches Verhalten jedes Einzelnen geprägt. Dementsprechend muss der jeweilige Schutzberechtigte grundsätzlich in der Lage sein, sich den unbestreitbar schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 14. November 2016 - 12 K 5984/16.A, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 2. September 2015 - 9 A 399/14 -, juris, Rdn. 46).

Dem steht nicht entgegen, dass international Schutzberechtigte für die Durchsetzung der nach der nationalen Gesetzeslage bestehenden Ansprüche auf Unterstützungsleistungen erhebliche Hürden zu überwinden haben. [...]

Diese Hürden können in Einzelfällen aber durch Hilfe aus der Zivilgesellschaft oder Unterstützung z.B. durch andere Flüchtlinge überwunden werden. Das bulgarische Recht sieht zudem Rechtsschutzmöglichkeiten vor (vgl. Auskunft der Frau PhD Dr. Valeria Ilareva vom 27. August 2015 an den VGH Baden-Württemberg, zu Frage 6).

Grundsätzlich ist es auch zumutbar, Rechte in Bulgarien notfalls mithilfe eines bulgarischen Rechtsbeistands oder der Unterstützung der in Bulgarien tätigen Flüchtlingsorganisationen durchzusetzen - auch vor den dortigen Gerichten.

Grundsätzlich wird auch durch einen unzureichenden Zugang zum Arbeitsmarkt in Bulgarien der Schutzbereich von Art. 3 EMRK nicht berührt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 - 13 A 1490/13.A -, juris, Rdn. 133). Diese Schwierigkeiten (fehlende Sprachkurse und daraus resultierende Integrationsprobleme) betreffen allerdings die konkrete Umsetzung der AnerkennungsRL, es ist allerdings, ausweislich der o.a. Entscheidung des EuGH unerheblich, dass Bulgarien diese Richtlinie nur teilweise umgesetzt hat.

Die Kammer geht daher zwar nach wie vor davon aus, dass anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten, die erwerbsfähig sind, in Bulgarien grundsätzlich keine Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Bulgarien droht. [...]

Im vorliegenden Fall einer Familie mit einem Kleinkind geht das Gericht jedoch davon aus, dass der Schutzbereich des Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung nach Bulgarien verletzt sein wird. Die Klägerin und ihr Lebensgefährte werden erhebliche Schwierigkeiten haben, eine für Kinder geeignete Unterkunft zu finden. Auch durch überobligatorische Anstrengungen wird es ihnen angesichts der oben dargestellten Erkenntnislage nicht gelingen, durch eigene Erwerbstätigkeit einen angemessenen Lebensunterhalt sicherzustellen. Dies gilt umso mehr, als dass ein Elternteil aufgrund des Alters der Tochter und damit verbundenen Betreuungsaufwandes einer Erwerbstätigkeit nicht wird nachgehen können. Unterstützungsleistungen durch staatliche oder nichtstaatliche Strukturen, die diese Defizite auffangen, stehen nicht mit Sicherheit zur Verfügung. Die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziff. 1 d. Bescheides) ist daher aufzuheben. [...]