VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 09.11.2021 - 4 A 144/19 - asyl.net: M30308
https://www.asyl.net/rsdb/default-edd6d4f6e5
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG für Familie aus Liberia:

1. Das Leben der Menschen in Liberia ist von problematischen wirtschaftlichen Verhältnissen, einer schwierigen Versorgungslage und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. 

2. Für eine Familie mit vier Kindern kann eine schwangere und auf Behandlung ihrer HIV-Erkrankung angewiesene Frau auch gemeinsam mit ihrem Ehemann kein wirtschaftliches Existenzminimum erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Liberia, Abschiebungsverbot, HIV/AIDS, Familieneinheit, Existenzminimum, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Im Fall der Abschiebung der Kläger nach Liberia liegt ein derartiger Ausnahmefall vor. Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass für die Kläger aufgrund ihres persönlichen Schicksals, ihrer familiären Situation und der derzeit harten Existenzbedingungen in Liberia die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sind. [...]

Demnach ist im vorliegenden Verfahren im Hinblick auf die Gefährdungsprognose davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) und die Kläger zu 2) und 3) gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater, ihrem Neffen bzw. Cousin sowie ihrem weiteren Kind bzw. Bruder in ihren Herkunftsstaat zurückkehren, da insofern eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft vorliegt. Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass sie mit ihrem Ehemann, den drei gemeinsamen Kindern sowie ihrem Neffen in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt. Die Kernfamilie umfasst insbesondere auch ihren 12-jährigen Neffen, da dieser, seit er sehr klein ist, bei der Klägerin zu 1) lebt und diese ihn wie einen eigenen Sohn ansieht und behandelt.  [...]

Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass es der derzeit schwangeren Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr nach Liberia zusammen mit ihrem Ehemann gelingen wird, ihre eigenen erforderlichen Bedürfnisse und die ihrer insgesamt bald vier leiblichen Kinder - darunter die Kläger zu 2) und 3) - sowie ihres Neffen im Hinblick auf Ernährung, Hygiene, Unterkunft und Beschäftigung zu erfüllen. Das Gericht hat im vorliegenden Fall die Überzeugung gewonnen, dass es der Klägerin zu 1) aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen, ihres persönlichen Schicksals und ihrer konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Liberia nicht möglich sein wird, dort für sich und ihre Kernfamilie ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Das Leben der Menschen in Liberia ist von problematischen wirtschaftlichen Verhältnissen, einer schwierigen Versorgungslage und hoher Arbeitslosigkeit geprägt.

Zwar ist die Klägerin zu 1) in Liberia aufgewachsen und daher mit der dortigen Kultur und den dortigen Lebensumständen vertraut. Jedoch hat sie dort nur für insgesamt fünf Jahre eine Schule besucht und daher keine ausreichende Schulbildung erfahren. Ferner war sie nach ihren Angaben vor ihrer Ausreise als Händlerin von Kleidungsstücken auf dem Markt tätig. Da diese Tätigkeit nunmehr jedoch bereits fast sechs Jahre zurückliegt, ist die Möglichkeit eines Anknüpfens an eine eigenständige berufliche existenzsichernde Tätigkeit im Fall einer Rückkehr nach Liberia insofern nicht ohne weiteres ersichtlich. Über eine andere Ausbildung verfügt die Klägerin zu 1) nicht. Ferner ist davon auszugehen, dass sie mittel- bis längerfristig angesichts ihrer HIV-Infektion in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sein wird. Falls sie - was nach den vorliegenden Erkenntnismittein u.a. wegen Lieferengpässen nicht unwahrscheinlich ist (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Liberia: HIV/Aids, 21. Oktober 2019) - ihre diesbezüglich erforderliche Medikation in Liberia nicht erhalten wird, dürfte sich ihre Leistungsfähigkeit sogar kurzfristig erheblich verschlechtern. Hinzu kommt, dass nach den Erkenntnismitteln eine soziale Stigmatisierung und Diskriminierung HIV-infizierter Personen in Liberia weiterhin weit verbreitet ist. Zwar ist laut Gesetz eine "Diskriminierung und Verunglimpfung auf Grundlage einer tatsächlichen oder vermeintlichen HIV-Infektion" grundsätzlich in Liberia verboten. Jedoch hat dieser Umstand an der weitgehend diskriminierenden Haltung der Bevölkerung gegenüber HIV-Infizierten nichts geändert. So würden z.B. zwischen 50 und 60 % der erwachsenen Liberianer von HIV-infizierten Ladenbesitzern kein Gemüse kaufen (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Liberia: HIV/Aids, 21. Oktober 2019). [...]

Zudem muss die Klägerin zu 1) damit rechnen, die Behandlung im Hinblick auf ihre HIV-Infektion gänzlich selbst zahlen zu müssen. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass der liberianische Staat oder ein dortiges Krankenversicherungssystem, in dem die Klägerin zu 1) bezugsberechtigt wäre, die Kosten für eine entsprechende Behandlung übernimmt (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Liberia: HIV/Aids, 21. Oktober 2019). Daher geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 1) einen nicht unerheblichen Teil ihres zu erwirtschaftenden Erwerbseinkommens insbesondere für die Medikamente gegen ihre HIV-Erkrankung - sofern diese in Liberia überhaupt erhältlich sind - aufwenden müsste.

Von der Möglichkeit der Klägerin zu 1), das Existenzminimum für sich, ihren Ehemann, ihren Neffen und die bald vier minderjährigen leiblichen Kinder - darunter die Kläger zu 2) und 3) - zu gewährleisten, kann unter diesen Umständen nach Überzeugung des Gerichts nicht ausgegangen werden. Insoweit liegen in den Personen der Kläger besondere Umstände vor, die das allgemeine Armutsrisiko in Liberia soweit erhöhen, dass bei einer Rückkehr von einer Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen auszugehen ist. [...]