OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 23.02.2001 - 1 Bf 127/98.A - asyl.net: M0413
https://www.asyl.net/rsdb/M0413
Leitsatz:

Die in jüngerer Zeit weiter verschlechterten allgemeinen Existenzbedingungen in Afghanistan begründen für Rückkehrer, die dort keinen familiären oder sonstigen Rückhalt mehr vorfinden, eine extreme Gefahrenlage, die zur Bewilligung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG führt (Änderung der Rechtsprechung des Senats).(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Gebietsgewalt, Taliban, Quasi-staatliche Verfolgung, Menschenrechtswidrige Behandlung, Sippenhaft, Familienangehörige, Vater, Kommunisten, Funktionäre, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Sprachkenntnisse, Extreme Gefahrenlage, Existenzminimum, Versorgungslage, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AuslG § 53 Abs. 4
Auszüge:

Für den Kläger besteht kein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Auch wenn zu seinen Gunsten in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung unterstellt wird, dass es in Afghanistan zumindest im Taliban-Bereich heute eine staatsähnliche Gewalt gibt (vgl. hierzu den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 10.08.2000, AuAS 2000 Seite 187), fehlt es auf Seiten des Klägers an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür, dass gerade ihm individuell die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung - landesweit - droht. Eine derartige Gefahr lässt sich für ihn, der im Zeitpunkt der Ausreise 11 Jahre alt war, weder aus dem Gesichtspunkt der Sippenhaft, aus der tadschikischen Volkszugehörigkeit bzw. dem Umstand ableiten, dass er nur die Sprache Dari spricht.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. Dezember 1999 ist zwar bisher nicht bekannt geworden, dass auf Seiten der Taliban Sippenhaft im klassischen Sinne praktiziert worden wäre. Dies sei allerdings - so das Auswärtige Amt - auch nicht ganz auszuschließen und abhängig davon, welche Bedeutung eine Person für die Taliban habe. Voraussetzung für die Annahme von Sippenhaft ist auf jeden Fall, dass für einen engen Familienangehörigen (hier für den Vater) selbst eine ernsthafte Verfolgungsgefahr besteht. Daran bestehen hier nach der bisherigen Aktenlage erhebliche Zweifel. Allerdings hat der Vater des Klägers bei dessen Anhörung vor dem Bundesamt am 5. April 1994 angegeben, er sei bereits 1976 Hauptmitglied der kommunistischen Partei geworden, ferner drei Jahre lang Verwaltungsdirektor des Frauenclubs in Kabul und zuletzt Verwaltungspräsident des gesamten afghanischen Frauenrates gewesen. Ob er damit schon zu dem Kreis der hochrangigen und nach außen in Erscheinung getretenen Funktionäre des früheren kommunistischen Regims gehörte, die nach der Auskunftslage (vgl. Auswärtiges Amt v. 27.07.2000 S. 7) heute noch mit Repressalien durch die Taliban rechnen müssen, ist aber mangels näherer Angaben über die Art der damit verbundenen Tätigkeiten sehr fraglich. Aus dem Umstand, dass der Vater seinen Angaben zufolge am 8. August 1992 zusammen mit dem Kläger und dessen älteren Bruder in seinem Haus von Mudjaheddin festgenommen und anschließend bis zum 27. Oktober 1992 inhaftiert worden ist, lässt sich dies nicht ableiten. Diese Aktion kann, da der Vater jedenfalls auch Kaufmann und offenbar Geschäftsinhaber war und gegen Zahlung eines Lösegeldes freigelassen worden sein soll, auch allein kriminellen Zwecken gedient haben. Dies wäre gerade in der ersten Zeit nach der Eroberung Kabuls durch die Mudjaheddin Ende April 1992 nichts Ungewöhliches gewesen. Es fällt jedenfalls auf, dass der Vater nichts darüber berichtet hat, dass er während seiner Haft etwa nach seiner früheren Tätigkeit unter der kommunistischen Herrschaft befragt worden oder deshalb etwa misshandelt worden ist. Der Kläger will demgegenüber in der Haft intensiv fast jeden Tag verhört und schwer misshandelt worden sein. Wenn dies tatsächlich im Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit seines Vaters gestanden haben soll, wie er vermutet, hätte nichts näher gelegen, als den Vater selbst zu befragen, solange man seiner habhaft war. Es erscheint unter diesen Umständen auch ungereimt, dass der Vater schon nach etwa zweieinhalb Monaten - zusammen mit dem älteren Bruder - entlassen worden sein soll, während der Kläger sechs Monate inhaftiert geblieben sein will.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK ergibt sich für den Kläger auch nicht daraus, dass er tadschikischer Volkszugehöriger ist und die Sprache Dari spricht. Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung liegen insoweit nicht vor.

Es kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Taliban bei den Tadschiken schon die Tatsache ihrer nicht-paschtunischen Volkszugehörigkeit generell zum Anlass für eine Verfolgung nehmen ( so auch Hessischer VGH, Urt. v. 26.1.1998, 13 UE 2978/96.A, S. 46). Dagegen spricht vor allem, dass es nach der Auskunftslage ausserhalb der genannten Gebiete zu vergleichbaren Maßnahmen gegen die tadschikische Bevölkerungsgruppe offenbar nicht gekommen ist. Gegen eine landesweite Gruppenverfolgung spricht ferner, dass die Tadschiken mit etwa 5 Millionen Menschen ungefähr 30 % der afghanischen Bevölkerung umfassen.

Es ist nach der Auskunftslage auch nichts dafür ersichtlich, dass die Taliban in den nicht umkämpften oder bedrohten Gebieten gegen Angehörige anderer Volksgruppen wie der Tadschiken allein deshalb vorgehen, weil diese als frühere Mitglieder der kommunistischen DVPA bekannt waren oder sonst der Unterstützung des kommunistischen Regimes verdächtigt wurden (ebenso Hess. VGH, a.a.O.). Ebenso wenig besteht für den Kläger die beachtliche Gefahr einer Gruppenverfolgung, weil er nur Dari (persisch) spricht. Diese Sprache wird außer von den Tadschiken zumindest auch von den Usbeken sowie den Hazaras und damit von einem Großteil der afghanischen Bevölkerung gesprochen. Schon dies macht eine darauf gestützte Gruppenverfolgung wenig wahrscheinlich, insbesondere nachdem die Taliban im Laufe der Jahre 1998/99 den größten Teil Nordafghanistans erobert haben, der ganz überwiegend von Tadschiken, Usbeken und Hazaras bewohnt wird. Auch die Auskunftslage bietet für eine Gruppenverfolgung keine ausreichende Stütze.

Für den Kläger greift jedoch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ein.

Er wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort derzeit herrschenden allgemeinen Verhältnisse, insbesondere der katastrophalen Versorgung, einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt, die seine Abschiebung bei verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG verbietet.

Der erkennende Senat hat angesichts der strengen Voraussetzungen, die für die Annahme eines derartigen Ausnahmefalles gegeben sein müssen, in seiner Rechtsprechung bisher das Vorliegen einer derartigen extremen Gefahrenlage für Rückkehrer nach Afghanistan noch verneint (vgl. zuletzt Urt. v. 12.1.2001, 1 Bf 79/98.A.). Hieran kann angesichts der inzwischen eingetretenen weiteren erheblichen Verschlechterung der Verhältnisse, wie sie sich nach der aktuellen Auskunftslage darbietet, nicht mehr festgehalten werden.