VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 08.10.2007 - A 11 K 300/07 - asyl.net: M12083
https://www.asyl.net/rsdb/M12083
Leitsatz:

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen unrichtiger Angaben i.S.d. § 73 Abs. 2 AsylVfG.

2. Die in Auskünften des Auswärtigen Amtes vielfach verwendete Formulierung "es kann nicht bestätigt werden" bedeutet nicht, dass das Gegenteil erwiesen ist.

 

Schlagwörter: Türkei, Rücknahme, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, HADEP, Vorstandsmitglieder, Falschangaben, Beweislast, Ursächlichkeit, Auswärtiges Amt, Reformen, Änderung der Sachlage, Menschenrechtslage, Situation bei Rückkehr, abgelehnte Asylbewerber
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2; AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen unrichtiger Angaben i.S.d. § 73 Abs. 2 AsylVfG.

2. Die in Auskünften des Auswärtigen Amtes vielfach verwendete Formulierung "es kann nicht bestätigt werden" bedeutet nicht, dass das Gegenteil erwiesen ist.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Maßgebend ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Abzustellen ist deshalb auf § 73 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970). Danach ist gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG die Anerkennung als Asylberechtigter zurückzunehmen, wenn sie aufgrund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist und der Ausländer auch aus anderen Gründen nicht anerkannt werden könnte. Diese Bestimmung ist auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entsprechend anzuwenden (§ 73 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG).

Entgegen der im angefochtenen Bescheid vertretenden Auffassung des Bundesamtes hat der Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht aufgrund unrichtiger Angaben zuerkannt erhalten. Der Bescheid vom 20.02.1997 enthält lediglich die Aussage, dass aufgrund des vom Kläger geschilderten Sachverhaltes und der vorliegenden Erkenntnisse davon auszugehen sei, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Verfolgungsmaßnahmen i.S.d. § 51 Abs. 1 AuslG zu rechnen habe. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung in Reutlingen am 15.01.1997 hat der Kläger seine Verfolgungsfurcht aber sowohl auf die Bedrohung wegen seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied der HADEP als auch auf die Nichteinhaltung seiner Zusage zur Zusammenarbeit mit der Polizei gestützt. Dass das Vorbringen des Klägers, ihm drohe eine konkrete Gefahr wegen seiner Verweigerung zur Zusammenarbeit mit der Polizei, unrichtig war, macht das Bundesamt selbst nicht geltend. Damit ist bereits zweifelhaft, ob die vom Bundesamt geltend gemachten unrichtigen Angaben (die sich auf den weiteren Fluchtgrund bezogen) für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft überhaupt ursächlich waren. Selbst wenn aber die Angaben des Klägers zu seiner Vorstandstätigkeit innerhalb der HADEP auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (auch) Einfluss hatten, so liegen diesbezüglich entgegen dem Vorbringen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid keine unrichtigen Angaben des Klägers vor. Das Bundesamt stützt sich maßgeblich auf eine von ihr eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28.02.2000, wonach bei Nachforschungen beim HADEP-Büro des Bezirk Istanbul/Kadiköy nicht habe bestätigt werden können, dass der Kläger in den Jahren 1994 bis 1996 Mitglied des Vorstandes der HADEP für den Bezirk Istanbul/Kadiköy gewesen sei; der Kläger sei nicht einmal langjährigen Mitarbeitern mit Namen bekannt gewesen. Diese Auskunft legt im Kontext zwar nahe, dass der Kläger in den Jahren 1994 bis 1996 kein Mitglied des Vorstandes der HADEP für den Bezirk Istanbul/Kadiköy gewesen ist. Tatsächlich wird mit der Aussage des Auswärtigen Amtes in der Auskunft vom 28.02.2000 jedoch lediglich mitgeteilt, dass die bei den Nachforschungen befragten Personen den Kläger nicht als Vorstandsmitglied in den Jahren 1994 bis 1996 identifizieren konnten. Die auch in vielen anderen Auskünften des Auswärtigen Amtes verwendete Formulierung "Es kann nicht bestätigt werden" interpretiert das Bundesamt auch im vorliegenden Fall irrig dahin, das Gegenteil sei erwiesen. Mit der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28.02.2000 kann das Bundesamt somit der ihr obliegenden Nachweispflicht, dass der Bescheid vom 20.02.1997 auf unrichtigen oder verschwiegenen Angaben beruht, nicht genügen. Durch Vorlage einer notariell beglaubigten Protokollabschrift einer Vorstandssitzung der HADEP des Bezirks Istanbul/Kadiköy vom 29.01.1995, in der der Kläger als Vorstandsmitglied genannt wird, hat der Kläger, obwohl die Darlegungs- und Beweislast beim Bundesamt liegt, seinerseits nachgewiesen, dass seine Angaben bei der Anhörung am 15.01.1997 nicht unrichtig waren. Das Bundesamt hat somit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Unrecht zurückgenommen.

Der Aufhebungsbescheid lässt sich auch nicht als Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufrecht erhalten. Unabhängig von der behördlichen Begründung ist das Gericht zur Prüfung verpflichtet, ob der angefochtene Rücknahmebescheid sich als Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aufrecht erhalten lässt (vgl. BVerwG, Urt. vom 24.11.1998, BVerwGE 108, 30 = NVwZ 1999, 302).

Auch wenn die Türkei hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte erhebliche Fortschritte gemacht hat, sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung der Menschenrechte nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen.

Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen.

Zwar ist seit Jahren kein Fall mehr bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. AA, Lagebericht vom 11.01.2007). Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein entsprechender Verdacht gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006; Taylan, Gutachten vom 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg). Insoweit hat sich die Sachlage gegenüber den Verhältnissen zur Zeit der Rechtskraft des Anerkennungsbescheids vom 20.02.1997 nicht wesentlich geändert. Nach wie vor ist kein Schutz vor faktischen Übergriffen menschenrechtswidriger Prägung in der Türkei gegeben.

Nach allem ist noch keine dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind. Damit lässt sich der Aufhebungsbescheid nicht als Widerruf der Flüchtlingseigenschaft aufrechterhalten.