VG Dresden

Merkliste
Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 25.11.2010 - A 5 K 1072/08 - asyl.net: M18562
https://www.asyl.net/rsdb/m18562
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für unverfolgt ausgereisten Palästinenser aus dem Westjordanland wegen eines Nachfluchttatbestandes. Die politische Verfolgung liegt in einer "Aussperrung" und "Ausgrenzung" in Gestalt einer Rückkehrverweigerung in die von Israel besetzten Gebiete.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Israel, Westjordanland, Palästinensische Gebiete, Palästinenser, Nachfluchtgründe, Einreiseverweigerung, gewöhnlicher Aufenthalt, politische Verfolgung, staatenlos,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

II. Der Kläger hat sein Heimatland unverfolgt verlassen. Ihm steht aber ein berücksichtigungsfähiger Nachfluchttatbestand zur Seite, da ihm im Fall seiner Abschiebung ins Westjordanland politische Verfolgung mit der notwendigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit durch den Staat Israel droht (sogenannter normaler Prognosemaßstab), so dass eine Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers als nicht zumutbar erscheint (st. Rspr. des BVerwG, vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 23.6.1991, BVerwG 88, 367 ff. [369]). Die politische Verfolgung liegt in einer "Aussperrung" und "Ausgrenzung" in Gestalt einer Rückkehrverweigerung in die von Israel besetzten Gebiete, also ins Westjordanland oder in den Gazastreifen.

1. Da politische Verfolgung grundsätzlich staatliche Verfolgung ist, bedarf es zur Prüfung eines Asylanspruchs wie auch eines Anspruchs nach § 60 Abs. 1 AufenthG zunächst der Feststellung, welchem Staat ein Asylbewerber angehört oder in welchem Land ein Staatenloser vor der Flucht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Ausgangspunkt für die Beurteilung eines Anspruchs nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist die in die Zukunft gerichtete Prüfung, ob der Betreffende im Fall seiner Rückkehr politischer Verfolgung ausgesetzt sein würde. Dies setzt einen Staat voraus, in den der Betreffende in rechtlich zulässiger Weise zurückkehren könnte. Das ist bei Personen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, das Land der Staatsangehörigkeit, bei Staatenlosen das Land des gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. OVG Schl.-H., Urt. V. 18.11.1998, InfAuslR 1999, 285 ff. [285]).

Für den Kläger kommt es auf die Verhältnisse im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts vor seiner Flucht an, weil er als palästinensischer Volkszugehöriger staatenlos ist. Der Kläger ist weder israelischer Staatsangehöriger, noch gibt es bislang einen Staat Palästina, dessen Staatsangehöriger der Kläger sein könnte (vgl. OVG Schl.-H., Urt. v. 18.11.1998, a.a.O., S, 286; VG Arnsberg, Urt. v. 25.9.2009 - 13 K 1456/08.A, zitiert nach juris). Grundsätzlich gilt für Staatenlose, dass ein Staat, der dem Staatenlosen aus nicht-politischen Gründen die Wiedereinreise nach freiwilliger Ausreise verweigert, seine Beziehungen zu diesem Staatenlosen löst und aufhört, für diesen das Land des gewöhnlichen Aufenthalts zu sein. Er steht dem Staatenlosen dann in gleicher Weise gegenüber wie jeder andere auswärtige Staat und ist nicht mehr taugliches Subjekt "politischer Verfolgung" im Sinne des Asylrechts (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2005, NVwZ 2005, 1191 f. [1192]).

Im Fall des Klägers ist die Sachlage aber differenzierter zu betrachten: Denn der israelische Staat hat das Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem annektiert und steht daher zu der dort seit jeher ansässigen palästinensischen Bevölkerung in einer rechtlichen Beziehung, die aus asylrechtlicher Sicht der Beziehung zwischen Staat und Bürger gleichkommt. Die Palästinenser im Westjordanland können augrund der Annexion von Israel die Einbeziehung in die übergreifende Friedensordnung in ähnlicher Weise wie Staatsbürger erwarten (vgl. OVG Schl.-H., Urt. v. 18.11.1998, a.a.O., S. 286).

2. Der Staat Israel übt politische Verfolgung gegen den Kläger im Sinne einer "Aussperrung" und "Ausgrenzung" aus, da sich seine Politik allein gegen palästinensische Volkszugehörige richten.

a) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass "Aussperrungen" und "Ausgrenzungen" in Gestalt von Rückkehrverweigerungen politische Verfolgung darstellen können, wenn sie wegen asylerheblicher Merkmale des Betreffenden erfolgen. Die Verweigerung der Wiedereinreise muss also auf die Rasse, die Religion, die Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder auf die politische Überzeugung des Asylbewerbers zielen. Dies wird regelmäßig anzunehmen sein, wenn die Aussperrung Staatsangehörige betrifft. Bei Staatenlosen liegt es demgegenüber nahe, dass eine solche Maßnahme auf anderen als auf asylrelevanten Gründen beruht, weil beispielsweise der Staat ein Interesse daran hat, die durch den Aufenthalt entstandene wirtschaftliche Belastung zu mindern oder Gefahren für die Staatssicherheit durch potentielle Unruhestifter vorzubeugen, oder weil er keine Veranlassung sieht, Staatenlose, die freiwillig das Land verlassen haben, wieder aufzunehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.1995, NVwZ-RR 1996, 471 f. [471]). Dasselbe gilt im Rahmen der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylVfG, die insoweit mit Art. 16 a Abs. 1 GG deckungsgleich ist (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 14.9.2007 - 21 K 2318/07.A zitiert nach juris).

b) Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass Israel den Kläger allein wegen seiner Volkszugehörigkeit endgültig nicht mehr in das Westjordanland einreisen lassen wird.

aa) Die Außengrenzen der besetzten Gebiete, insbesondere des Westjordanlands, sind seit langem der israelischen Verwaltung unterstellt. Eine Ein- bzw. Ausreise ist ohne israelische Kontrolle nicht möglich. Im Prinzip kann palästinensischen Volkszugehörigen, die im Bevölkerungsregister verzeichnet sind und über eine palästinensische Personenkennziffer verfügen, durch die zuständigen Passbehörden ein Reisepass ausgestellt werden, so dass diese Personen theoretisch ein Rückkehrrecht in die palästinensischen Gebiete hätten (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 14.9.2007, a.a.O.). Die Praxis des Staates Israel hinsichtlich einer "Aussperrung" von palästinensischen Volkszugehörigen scheint jedenfalls noch im Jahre 2007 wie in den Jahren davor "flexibel" gewesen zu sein. Jedenfalls Palästinensern, die im Jahr 2007 im Besitz entsprechender Identitätspapiere waren, wurde damals die Einreise in das Westjordanland ohne weiteres gestattet, so dass es an der für die Verfolgungsrelevanz der Einreiseverweigerung notwendigen politischen "Gerichtetheit" fehlte (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 14.9.2007, a.a.O., VG des Saarlandes, Urt. v. 27.6.2007 - 10 K 3/07 -; beide zitiert nach juris).

bb) Zum Zeitpunkt der Entscheidung dieses Verfahrens im November 2010 liegt dem Gericht nur noch eine verwertbare Entscheidungsgrundlage vor, nämlich das von der Klägervertreterin in Auszügen vorgelegte Gutachten des Herrn Uwe Brooks vom 16.4.2010. Es fehlen Lageberichte des Auswärtigen Amtes aus den letzten Jahren. Auch neuere Rechtsprechung zu Fragen der "Aussperrung" und "Ausgrenzung" von palästinensischen Volkszugehörigen scheint jedenfalls nicht veröffentlicht zu sein. Angesichts dieser Sachlage, der gerichtsbekannten guten und nicht einseitigen Sachverständigenarbeit des Herrn Uwe Brocks und keinerlei Hinweisen auf dem Gutachten entgegengesetzte Auffassungen zur Situation im Westjordanland hält das Gericht es mangels eigener Sachkunde für unverzichtbar, dieser Sachkunde zu folgen.

Uwe Brocks berichtet in seinem Gutachten, dass die Politik der Israelis seit der Besetzung im Jahre 1967 darauf gerichtet sei, möglichst viel des Gebietes des Westjordanlandes so in ihren Besitz zu bringen, dass eine Änderung des Zustandes nicht mehr möglich ist, und die faktische Inbesitznahme durch die Israelis zu einer unumkehrbaren Realität wird. Deshalb gäbe es die Siedlungspolitik, deshalb die Hinderung des palästinensischen Wirtschafts- und Geschäftsverkehrs in jeder Hinsicht, deshalb die zahllosen Enteignungen und rechtswidrigen Inbesitznahmen von Land, meistens unter dem Vorwand des nationalen Sicherheitsinteresses. Uwe Brocks weist weiter darauf hin, dass sich die zeitliche "Abwesenheitsgrenze", nach deren Ablauf die Israelis Palästinensern die permanente Aufenthaltserlaubnis für das Westjordanland entzogen haben, in früheren Jahren bei 6 Jahren lag. So hätten die Israelis in den Jahren 1967 bis 1999 ca. 100.000 aus dem Westjordanland stammenden Palästinensern die permanente Aufenthaltsberechtigung im Westjordanland entzogen. Meistens sei dies wegen fortdauernder Abwesenheit geschehen, es habe aber auch andere Gründe gegeben. Die Israelis seien hier niemandem rechenschaftspflichtig, da es sich insoweit um Entscheidungen der Militärverwaltung handele. Diese Zeit-Grenze sei dann stets in einem durch den Gutachter nicht genau zu erhellendem Ausmaß geringer geworden. Heute, d.h. im Jahre 2010 sei es so, dass Palästinenser aus dem Westjordanland nach drei Jahren permanenter Abwesenheit ihre Rückkehrberechtigung verlieren. Familienzusammenführungen gebe es seit 2000 im Westjordanland gar nicht mehr. Wer zu seinem palästinensischen Partner wolle, könne diesen nicht in das Westjordanland holen, sondern müsse zu ihm nach außerhalb des Westjordanlands ziehen (Gutachten v. 16.4.2010, S. 4, 5, 12/13, 15).

Zur Begründung dieser Politik führt Uwe Brocks an, dass den Israelis daran gelegen gewesen sei, die palästinensische Bevölkerung aus dem Westjordanland "wegzusiedeln". Insgesamt sei die israelische Politik in dieser Hinsicht völlig willkürlich, unberechenbar und ohne gesetzliche Grundlage gewesen. Es habe sich immer um Verwaltungsentscheidungen gehandelt, die von der Militärverwaltung der besetzten Gebiete getroffen wurden. Die Entscheidungskriterien sind im Laufe der Zeit zusehends strenger und restriktiver geworden.

cc) Die Ausführungen aus dem Gutachten von Uwe Brocks fügen sich in das bis zum Jahr 2007 durch Gutachten und Gerichtsentscheidungen belegbare Bild zu den Geschehnissen im Westjordanland ohne Widersprüche ein. Danach ist die Politik der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten im Laufe der Jahre immer restriktiver geworden. Während es im Jahre 2007 noch möglich war, mit einem Reisepass auch nach mehreren Jahren der Abwesenheit auf jeden Fall wieder in das Westjordanland einreisen zu können, scheint dies jetzt nicht mehr möglich zu sein. Uwe Brocks spricht deutlich davon, dass die Einreise nach dreijähriger Abwesenheit unmöglich ist, ohne sich der Frage zu widmen, ob es dabei auf Reisedokumente ankommt. Damit ist die Verfolgungsrelevanz der israelischen Politik im Jahre 2010 zu bejahen: Jeder palästinensische Volkszugehörige, der im Westjordanland registriert, aber nunmehr drei Jahre von dort abwesend war, wird nicht mehr in das Westjordanland hineingelassen, unabhängig davon, ob er gültige Reisepapiere besitzt.

dd) Im vorliegenden Fall ist der Kläger länger als drei Jahre nicht im Westjordanland gewesen. Er wird daher wegen seiner palästinensischen Volkszugehörigkeit von den israelischen Militärbehörden aus seinem Heimatland "ausgesperrt" und würde daher bei einer Abschiebung politischer Verfolgung ausgesetzt, weshalb ihm Schutz über § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylVfG zu gewähren ist. [...]