Feststellung der Flüchtlingseigenschaft wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung durch die Familie aufgrund einer Vergewaltigung durch Serben im Jugoslawien-Krieg, die wiederum die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung gem. 3b Nr. 4 AsylG erfüllte.
Im Kosovo besteht aufgrund der geringen Größe des Landes keine inländische Fluchtalternative bei Verfolgung durch die Großfamilie. Gerade für Opfer sexueller Gewalt ist es bei einem fehlenden sozialen Netzwerk aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung, die im Kosovo damit einhergeht, nahezu unmöglich, eine Arbeit zu finden und den Lebensunterhalt zu sichern.
(Leitsätze der Redaktion)
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Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer Verfolgung wegen des Geschlechts zu. Die Einzelrichterin ist überzeugt, dass die Klägerin ihre Heimat aufgrund der ausgesprochenen Drohungen ihres Vaters und Schwiegervaters verlassen hat und dass sie im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Repressionen seitens des Vaters und des Schwiegervaters ausgesetzt sein würde.
Das Gericht nimmt Bezug auf die Ausführungen des Bescheids des Bundesamts vom 26. Februar 2016 auf Seite 4, wonach die systematischen Vergewaltigungen der Frauen durch Serben im Kosovo-Krieg die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung gern. § 3b Nr. 4 AsylG erfüllen. Die Klägerin hat die Vergewaltigung im Jahr 1999 bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt glaubhaft dargestellt. Das Gericht folgt dem Bescheid auf Seite 4 ebenfalls in den Ausführungen, dass die Regeln des Kanuns in Kosovo weit verbreitet sind und dass der Kanun vorschreibt, dass eine Frau nach dem Bekanntwerden einer Vergewaltigung ihren Wert verliert. Dem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 7. Oktober 2015 (Kosovo: Gewalt gegen Frauen und Rückkehr von alleinstehenden Frauen) ist zu entnehmen, dass Opfer sexueller Gewalt innerhalb der eigenen Familie und in der Gesellschaft stigmatisiert werden. Frauen, die eine Vergewaltigung melden, riskieren soziale Isolation und aus der eigenen Familie ausgestoßen, vom Ehemann geschieden oder "unverheiratbar" gemacht zu werden.
Nicht gefolgt werden kann dem Bescheid des Bundesamts vom 26. Februar 2016 aber in den Ausführungen, dass die Klägerin nicht glaubhaft darlegen kann, dass die Tat erst 16 Jahre später aufgedeckt wurde und dass eine inländische Fluchtalternative bestünde (Seite 5 des Bescheids).
Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon überzeugt, dass es der Wahrheit entspricht, dass ein Arbeiter der … dem Schwiegervater erzählt hat, dass der zufällig an diesem Tag einkaufende Vater der Klägerin der Vater einer im Krieg vergewaltigten Tochter ist. Sie hat auch glaubhaft die Reaktion des Schwiegervaters ihr gegenüber (mündliche Verhandlung) und die Reaktion ihres Vaters (Angaben bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt) und die dadurch ausgelöste sofortige Flucht beschrieben. Der Schwiegervater hat nach der Überzeugung der Einzelrichterin auch versucht, den Ehemann der Klägerin dazu zu bringen, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Die Klägerin musste zum Zeitpunkt ihrer Ausreise befürchten, vom Vater oder Schwiegervater tätlich angegriffen zu werden und aus der Familie ausgestoßen zu werden. Die Darstellung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung erfolgte umfassend, in der zu erwartenden Ausführlichkeit, lebensnah, nachvollziehbar und widerspruchsfrei.
Akteur dieser drohenden Verfolgung war die Familie der Klägerin und nicht die Republik Kosovo. Die drohende Verfolgung ist aber dem Staat zurechenbar, da die Klägerin den Schutz des Staates oder hinreichend mächtiger Parteien, Organisationen oder internationaler Organisationen nicht in Anspruch nehmen konnte. So werden Misshandlungen und sexuelle Gewalt in Kosovo gesellschaftlich tabuisiert und von den Betroffenen wegen Angst vor Repressalien und fehlender Unterstützung durch Familie und Gesellschaft nur selten zur Anzeige gebracht. Ein effektiver Schutz durch staatliche Stellen besteht nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo, Stand September 2015, Seite 15).
Eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG besteht für die Klägerin nicht. Sie gab in der mündlichen Verhandlung glaubhaft an, Verwandte in Prizren, Vushtri, Peje und Skenderaj zu haben. Die Familie der Klägerin wohnt in Vushtri, was ca. 23 km von Pristina entfernt liegt. Der Vater der Klägerin ist im Baugewerbe auch in den Städten Pristina und Prizren beschäftigt. Bei der Familie der Klägerin handelt es sich um eine Großfamilie, so dass davon auszugehen ist, dass der Aufenthalt der Klägerin von einem Familienmitglied in Erfahrung gebracht werden kann. Aus der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH Länderanalyse, Kosovo: Blutrache, Stand: 1. Juli 2016) ist zudem zu entnehmen, dass wegen der geringen Größe des Kosovos es leicht möglich ist, eine Person auch in größeren Städten schnell zu finden, da sich diese aus "ethnischen" Vierteln zusammensetzen, in denen die Verwandtschaftsbeziehungen zum Heimatort und patrilinearen Clan bewahrt werden. Es sei nicht möglich, von einem in einen anderen Landesteil zu ziehen und einfach zu verschwinden. Jede kosovo-albanische Person könne ihre Herkunft auf einen der zwölf Gründungsclans der Albaner in Kosovo zurückführen, selbst in Fällen, in denen sich eine Familie gespalten und einen neuen Namen angenommen hat. Es sei nicht möglich, eine falsche Identität zu erfinden, die eine Überprüfung standhalten würde. Ein Verschwinden als Schutz vor Blutrache sei in Kosovo nicht möglich, da Neuankömmlinge stets in einen Kontext sozialer Beziehungen eingeordnet würden und Höflichkeitsnormen schrieben bereits bei der ersten Begegnung vor, sich nach Herkunft und Familienbeziehungen zu erkundigen (SFH Länderanalyse, a.a.O. S. 10). Auch aus diesem ergibt sich, dass eine Rückkehr der Klägerin in den Kosovo von ihrer Familie wohl in Erfahrung gebracht würde.
Zwar konnte und kann die Klägerin auf die Unterstützung durch ihren Ehemann vertrauen, der sich der familiären Ansicht zur angeblichen Ehrverletzung der Klägerin nicht anschloss. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass dieser im Fall der Rückkehr dem Druck der Familie nicht standhalten können wird und dass die Klägerin aus der Familie ausgestoßen werden wird. Selbst wenn die Klägerin im Fall ihrer Rückkehr nicht mit körperlichen Repressalien rechnen müsste, so würde jedenfalls die nach den im Kosovo geltenden Regeln der Ehrverletzung im Raum stehende Verstoßung aus der Familie dazu führen, dass ihr auch aus wirtschaftlichen Gründen eine inländische Fluchtalternative nicht zumutbar wäre. Die Klägerin hat selbst keinen Beruf erlernt, sie ist Hausfrau. Zwar kann eine verheiratete, aber von ihrem Ehemann getrennt lebende Rückkehrerin Sozialhilfe beantragen. Allerdings hängt die Höhe der ausbezahlten Sozialhilfe von dem Erwerbsstatus und dem Vermögen der Familienmitglieder inklusive des Ehemanns ab. (SFH Themenpapier, Kosovo: Gewalt gegen Frauen und Rückkehr von alleinstehenden Frauen, Stand: 7. Oktober 2015, S. 16). Ohne Arbeitsstelle und genügend Finanzmittel ist das Finden einer Mietwohnung oder der Zugang zu einer Sozialwohnung für eine alleinstehende Frau praktisch unmöglich. Gerade für Opfer von sexueller Gewalt, die von ihren Familien verstoßen werden, ist es aufgrund der Stigmatisierung und wegen des fehlenden sozialen Netzwerkes praktisch unmöglich, eine Arbeit zu finden und den Lebensunterhalt für sich und die eigenen Kinder zu bestreiten. Opfer werden nach Angaben der NGO wegen der begrenzten Unterstützung sowie wegen wirtschaftlicher Not und Stigmatisierung in die Prostitution und in den Menschenhandel getrieben (SFH Themenpapier, a.a.O. S. 16 und 18). [...]