VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.05.2017 - 11 S 322/17 (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 306 ff.) - asyl.net: M25203
https://www.asyl.net/rsdb/M25203
Leitsatz:

[Vergewisserungspflicht der Behörde bei der Abschiebung Minderjähriger:]

1. Bei der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers hat sich die abschiebende Behörde gemäß § 58 Abs. 1a AufenthG von der konkreten Möglichkeit einer Übergabe an ein für die Ausübung der Personensorge geeignetes Mitglied der Familie, eine andere zu seiner Personensorge berechtigte und geeignete Person oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung im Heimatland zu vergewissern. Die bloße Mitteilung an die Deutsche Botschaft im Heimatland des Ausländers über die geplante Abschiebung mit Bitte um die Sicherstellung der weiteren Betreuung des Ausländers reicht nicht aus.

2. Dem Ausländer ist das Ergebnis der Vergewisserung über seinen gesetzlichen Vertreter mitzuteilen. Die Mitteilungspflicht der Ausländerbehörde aus § 58 Abs. 1a AufenthG ist von der in § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG geregelten Pflicht zur Ankündigung einer vorgesehenen Abschiebung zu unterscheiden. (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - [asyl.net: M21030]).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Abschiebung, Sorgerecht, Mitteilungspflicht, Pflicht zur Vergewisserung, Duldung, Kosovo,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 1a, AufenthG § 60a, GG Art. 6, EMRK Art. 8, KRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Dabei kann der in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK fixierte Schutz der Familie eine rechtliche Unmöglichkeit, also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis begründen. Bei der Auslegung des tatbestandlichen Begriffs der familiären Lebensgemeinschaft ist zuvörderst die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG zu berücksichtigen. Sie verpflichtet die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß - das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen - in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1 <49 ff.> und vom 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81 <93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171 <173>; und vom 22.12.2003 - 2 BvR 2108/00 -, BVerfGK 2, 190 <194>), auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67 <68>, vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682 <683> und vom 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387). Voraussetzung für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ist dabei zunächst grundsätzlich, dass es um die Trennung von Personen geht, die berechtigterweise im Bundesgebiet leben, also ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet haben (BVerfG, Beschlüsse vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, FamRZ 2006, 187 und vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 -, juris). Nur ausnahmsweise kann auch bei Trennung von einem ausländischen Familienangehörigen, der (nur) im Besitz einer Duldung ist, eine Unzumutbarkeit vorliegen, nämlich dann, wenn weitere besondere Umstände des Einzelfalls hinzukommen.

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen liegt eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung der Antragstellerin nicht vor. Unabhängig von der von den Beteiligten diskutierten Frage, ob die familiäre Bindung der Antragstellerin zu ihrem Bruder eine zur Begründung eines Abschiebungsverbots ausreichend schutzwürdige Beziehung darzustellen vermag, bleibt die Beschwerde angesichts des Status von G.E. erfolglos. Denn dieser ist nach Auskunft der zwischenzeitlich zuständigen Ausländerbehörde beim Landratsamt ... noch immer geduldet. Ein Aufenthaltsrecht besteht danach nicht. Eine Ausnahmesituation, die dennoch Anlass zur Annahme eines Abschiebungshindernisses zugunsten der Antragstellerin geben würde, liegt nicht vor. [...]

Zutreffend rügt die Antragstellerin allerdings, dass ihrer Abschiebung derzeit § 58 Abs. 1a AufenthG entgegensteht.

§ 58 Abs. 1a AufenthG bestimmt, dass sich die Behörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern hat, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.

Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Ausländerbehörden - und ggf. die Verwaltungsgerichte - sich in jedem Einzelfall die Überzeugungsgewissheit davon verschaffen müssen, dass die Übergabe des unbegleiteten Minderjährigen an eine in der Vorschrift genannte Person oder Einrichtung nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich auch erfolgen wird, dass also die konkrete Möglichkeit der Übergabe besteht. Die abstrakte Möglichkeit einer Übergabe des unbegleiteten minderjährigen Ausländers z.B. an Verwandte, die sich im Herkunftsland aufhalten und deren Aufenthaltsort nach der Ankunft erst noch ermittelt werden muss, reicht nicht aus. Insbesondere ist auch Art. 3 KRK zu beachten, wonach das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, etwa auch bei der Beurteilung der Eignung einer Aufnahmeeinrichtung. Wenn die Ausländerbehörde sich von der konkreten Möglichkeit der Übergabe vergewissert hat, hat sie dem Minderjährigen über seinen gesetzlichen Vertreter das Ergebnis ihrer Ermittlungen mitzuteilen. Der unbegleitete Minderjährige hat so ausreichende Möglichkeiten, in Fällen, in denen die Ausländerbehörde der Auffassung ist, dass § 58 Abs. 1a AufenthG einer Abschiebung nicht (mehr) entgegensteht, diese Entscheidung einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen oder beim Bundesamt ein Folgeschutzgesuch anzubringen. Er kann gegen die Entscheidung der Ausländerbehörde, die Abschiebung nicht (länger) gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen oder die Duldung gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG zu widerrufen, um Rechtsschutz nachsuchen. War die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt, ist die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen (§ 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG). § 58 Abs. 1a AufenthG wirkt, solange sich die Ausländerbehörde nicht von der konkreten Möglichkeit der Übergabe des minderjährigen Ausländers an eine Person oder Einrichtung im Sinne von § 58 Abs. 1a AufenthG vergewissert hat, systematisch als rechtliches Vollstreckungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit aufschiebender Wirkung. Bis zu einer positiven Klärung der konkreten Übergabemöglichkeit durch die zuständige Ausländerbehörde besteht kraft Gesetzes Schutz vor Abschiebung (BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013 1489, Rn. 17 bis 22). [...]

Auch die Übergabe an eine geeignete Aufnahmeeinrichtung ist derzeit nicht gesichert und auch nicht absehbar. Der Antragsgegner hat einen entsprechenden Nachweis bislang nicht erbracht.

Laut der E-Mail der Deutschen Botschaft vom 7. Februar 2017 existieren bis heute im Kosovo keine öffentlichen Einrichtungen für die Versorgung eltern- bzw. betreuungsloser Minderjähriger. Im Übrigen lässt sich auch dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 7. Dezember 2016, Stand September 2016, Seite 27) entnehmen, dass es nach Mitteilung des Ministeriums für Arbeit und Sozialfürsorge im Kosovo keine klassischen staatlichen Kinderheime für Kinder ohne elterliche Fürsorge gibt. In Klina gibt es lediglich ein Kinderheim in kirchlicher Trägerschaft. Für unbegleitete Minderjährige ist das "Amt für soziale Angelegenheiten" der Gemeinde zuständig, in der die Minderjährigen zuletzt registriert waren. Dort wird zunächst geprüft, ob eine Inobhutnahme bei Verwandten möglich ist. Falls eine Unterbringung bei Verwandten oder auch einer anderen aufnahmewilligen Familie nicht möglich ist, bestehen Unterbringungsmöglichkeiten in einem Kinderheim in Klina oder einem SOS-Kinderdorf. Darüber hinaus existiert ein Haus des Ministeriums für Arbeit und Sozialfürsorge für Waisenkinder bzw. für Kinder mit Behinderungen. Die Aufnahmekapazität liegt bei bis zu zehn Personen. Ob die Antragstellerin in einer dieser (wenigen) Einrichtungen aufgenommen könnte und inwieweit die betreffende Einrichtung geeignet wäre, ist offen. Dem genannten Lagebericht lässt sich ferner auch entnehmen, dass die geplante Rückführung von unbegleiteten Minderjährigen der Deutschen Botschaft Priština mindestens sechs Wochen vorher gemeldet werden sollte.

Indes kann dem Einwand der Antragstellerin, die Übergabe an eine Fürsorgeeinrichtung widerspreche angesichts der in Deutschland zur Verfügung stehenden Vertrauensperson (ihres Bruders) dem Kindeswohl - mit der Folge, dass eine Übergabe an eine ggf. doch noch ausfindig gemachte Einrichtung aus grundsätzlichen Erwägungen dennoch ausscheiden würde - nicht gefolgt werden. Die familiären Bindungen der Antragstellerin sind im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Sie hindern hier allerdings - wie vorstehend ausgeführt - die Abschiebung der Antragstellerin nicht. [...]

Soweit der Antragsgegner die Auffassung vertritt, die Voraussetzungen des § 58 Abs. 1a AufenthG seien sichergestellt, sobald eine entsprechende Zusage der kosovarischen Behörden vorliege, trifft dies nicht zu. Vielmehr bedarf es in jedem Fall einer eigenständigen Prüfung durch den Antragsgegner am Maßstab des § 58 Abs. 1a AufenthG.

Auch der Umstand, dass sich das kosovarische Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge verpflichtet hat, minderjährige Rückkehrer aufzunehmen und dass deren Betreuung dann von einem Sozialarbeiter auf lokaler Ebene übernommen wird (vgl. Seite 27 der o.g. Lageberichts vom 7. Dezember 2016), entbindet nicht von der Pflicht zur Vergewisserung in Anwendung der dargestellten Maßstäbe. [...]

Gelangt der Antragsgegner nach einer entsprechenden Vergewisserung zum Ergebnis, dass nunmehr die Voraussetzungen des § 58 Abs. 1a AufenthG gegeben sind, so hat er außerdem seiner Mitteilungspflicht nachzukommen. Denn wie ausgeführt hat die Ausländerbehörde dem minderjährigen Ausländer und insbesondere seinem gesetzlichen Vertreter - im Falle des unbegleiteten Minderjährigen dem bestellten Vormund - das Ergebnis ihrer Ermittlungen in jedem Fall bekannt zu machen. Diese Mitteilungspflicht ist - abweichend von der Darstellung in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts - von der Pflicht zur Ankündigung der Abschiebung in § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG zu unterscheiden. § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG bestimmt, dass dann, wenn die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt ist, die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen ist. Die Frist nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG soll dem Ausländer die Möglichkeit geben, sich bzw. seine Lebensverhältnisse früh auf die Aufenthaltsbeendigung einzustellen und die persönlichen Angelegenheiten ordnen zu können (OVG LSA, Beschluss vom 17.08.2010 - 2 M 124/10 -, juris Rn. 3; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand April 2017, § 60a Rn. 306). In der Konstellation des unbegleiteten Minderjährigen ermöglicht die Mitteilung der behördlichen Ermittlungen dagegen in Anknüpfung an deren Vergewisserungspflicht und an Art. 19 Abs. 4 GG die Nachprüfung durch den Minderjährigen und seinen gesetzlichen Vertreter sowie erforderlichenfalls auch die gerichtliche Überprüfung. Der Ausländer hat so die Möglichkeit, gegen die mit der Mitteilung einhergehende Entscheidung der Ausländerbehörde um Rechtsschutz nachzusuchen, wenn diese entweder die Duldung gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG widerruft - in diesem Fall wäre ggf. zusätzlich § 60 Abs. 5 Satz 4 AufenthG zu beachten - oder aber wenn sie die Abschiebung nicht (länger) gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.06.2013, a.a.O., Rn. 21; vgl. auch jüngst VG Freiburg, Beschluss vom 16.03.2017 - 5 K 1093/17 -, juris). [...]