VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 12.03.2018 - 9 B 49/18 - asyl.net: M26090
https://www.asyl.net/rsdb/M26090
Leitsatz:

Keine Dublin-Familienzusammenführung nach Ablauf der Überstellungsfrist:

1. Kein Anspruch auf Überstellung der Ehefrau und fünf minderjährigen Kinder aus Griechenland zu ihrem in Deutschland schutzberechtigten Ehemann und Vater. Zwar war Deutschland ursprünglich nach Art. 10 Dublin-III-VO zuständig, als der Ehemann und Vater noch im Asylverfahren war. Wegen Ablaufs der Überstellungsfrist ist die Zuständigkeit allerdings gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO nachträglich auf Griechenland übergegangen (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 25.10.2017 - C-201/16 Shiri gg. Österreich - asyl.net: M25607, Asylmagazin 1-2/2018).

2. Die Entscheidung des BAMF, nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht den Selbsteintritt auszuüben, ist nicht fehlerhaft, da Art. 17 Dublin-III-VO nicht mehr anwendbar ist. Diese Zuständigkeitsvorschrift wird von der spezielleren Fristenregelung des Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO verdrängt (entgegen dem Wortlaut von Art. 17 Dublin-III-VO.)

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienzusammenführung, Griechenland, Dublin III-Verordnung, Familiennachzug, einstweilige Anordnung, Übernahmeersuchen, Überstellungsfrist, Überstellung, Beschränkung, Deckelung, Verlangsamung, Verwaltungspraxis, vorläufiger Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, subjektives Recht, Drittschutz, drittschützend, Kindeswohl, Achtung des Familienlebens, Kontingent, Kontingentierung, Familieneinheit, Selbsteintritt, effektiver Rechtsschutz,
Normen: VO 604/2013 Art. 10, VwGO § 123, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 7, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 2, VO 118/2014 Art. 8 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 2 Bst. g, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 21, VO 604/2013 Art. 29, VO 604/2013 Art. 21 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Vorliegend sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, da bereits nach dem eigenen Vorbringen der Antragsteller der geltend gemachte Anspruch auf Überstellung in die Bundesrepublik Deutschland (Anordnungsanspruch) nicht gegeben ist. Hierbei konnte die Frage dahinstehen, ob Art. 22 Abs. 7, Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung i.V.m. Art. 8 Abs. 1 Dublin III-Durchführungsverordnung ein subjektives Recht der Antragsteller auf Überstellung zu begründen vermag. Denn ein solcher Anspruch auf Überstellung der Antragsteller zu 2) bis 7) in die Bundesrepublik Deutschland würde zumindest voraussetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für die Durchführung der Asylverfahren zuständig ist. Dies ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/14 der Kommission vom 30. Januar 2014 (sog. Dublin III-Durchführungsverordnung), wonach der zuständige Mitgliedstaat die rasche Überstellung des Asylbewerbers zu ermöglichen und dafür Sorge zu tragen hat, dass dessen Einreise nicht behindert wird. Im hiesigen Fall ist die Bundesrepublik Deutschland im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für die Durchführung der Asylverfahren nicht mehr zuständig.

1. Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist zumindest gemäß Art. 29 Abs. 1 UA 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung nachträglich auf Griechenland übergegangen, da die Antragsteller zu 2) bis 7) nicht innerhalb der Überstellungsfrist von Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland überstellt wurden.

Die Bundesrepublik Deutschland war als Mitgliedstaat für die Durchführung der Asylverfahren der Antragsteller zu 2) bis 7) gemäß Art. 10 Dublin III-Verordnung originär zuständig. [...]

Sofern diese Fristen nicht gewahrt werden, sieht sowohl Art. 21 Abs. 1 UA 3 Dublin III-Verordnung als auch Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung vor, dass die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland auf Griechenland als ersuchenden Mitgliedstaat nachträglich übergeht. Im Falle eines Zuständigkeitsübergangs nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung dürfen die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats (hier Griechenland) die Antragsteller zu 2) bis 7) nicht in einen anderen Mitgliedstaat (hier: Bundesrepublik Deutschland) überstellen, sondern sind verpflichtet, unverzüglich mit der Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zu beginnen (vgl. EuGH, Urteil vom 25.10.2017 – C-201/16 -, Rn. 43, juris).

Vorliegend kann es dahinstehen, ob das Aufnahmegesuch an die Bundesrepublik Deutschland verspätet war und damit die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland bereits gemäß Art. 21 Abs. 1 UA 3 der Dublin III-Verordnung nachträglich auf Griechenland übergegangen ist. Denn die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist zumindest gemäß Art. 29 Abs. 1 UA 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung nachträglich auf Griechenland übergegangen, da die Antragsteller zu 2) bis 7) nicht innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist von Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland überstellt wurden. [...]

2. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, nach Ablauf der Überstellungsfrist vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Dublin III-Verordnung keinen Gebrauch zu machen, ist nicht zu beanstanden.

Die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 17 Dublin III- Verordnung ist nicht mehr anwendbar. Die Vorschrift des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung genießt Anwendungsvorrang gegenüber den Zuständigkeitsvorschriften der Art. 8 ff. Dublin III-Verordnung. Der Verordnungsgeber hat nämlich im Kapitel III der Dublin III-Verordnung (Art. 8 bis Art. 15 Dublin III-Verordnung) zunächst allgemeine Kriterien zur Bestimmung des originär zuständigen Mitgliedstaats festgelegt. Daneben hat er jedem Mitgliedstaat das Recht eingeräumt, sich im Wege des sog. Selbsteintrittsrechts zur Prüfung des Asylantrags für zuständig zu erklären, auch wenn er nach den allgemeinen Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (vgl. Art. 17 Dublin III-Verordnung). Abweichend hiervon hat der Verordnungsgeber in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung eine zwingende Zuständigkeit eines Mitgliedstaates angeordnet, indem er festlegt, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Insoweit regelt der Verordnungsgeber in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung im Wege eines Spezialgesetzes einen Ausnahmefall mit der Folge, dass ein Rückgriff auf die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften und damit auf Art. 17 Dublin III-Verordnung verwehrt ist.

Daneben widerspricht es auch dem klaren Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unterbliebenen Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist nunmehr nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung für die Durchführung der Asylverfahren zuständig wäre. Insbesondere führt die von den Antragstellern zitierte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 15. September 2017 selbst an, dass der geltend gemachte Anspruch auf Überstellung grundsätzlich mit dem Ablauf der Überstellungsfrist untergehe (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 15.09.2017 - 6 L 4438/17.WI.A -, Rn. 43, juris). [...]