OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 05.06.2018 - 3 KO 167/18 - asyl.net: M26417
https://www.asyl.net/rsdb/M26417
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für staatenlosen Palästinenser aus Syrien:

1. Staatenlose palästinensischen Volkszugehörige mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien sind nach § 3 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 1 und 2 und § 4 AsylG "ipso facto", also ohne Einzelfallprüfung, als Flüchtlinge anzuerkennen.

2. Wird einer von einem Bürgerkrieg betroffenen Person der subsidiäre Schutz zuerkannt oder könnte dieser zuerkannt werden, so geht hiervon eine Indizwirkung dafür aus, dass UNRWA in dem betroffenen Gebiet keinen Schutz gewähren kann.

(Leitsätze der Redaktion; Zurückweisung der Berufung des BAMF; unter Bezug auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2017 - A 11 S 664/17 (Asylmagazin 9/2017, S. 349 ff.) - asyl.net: M25278 und Rechtsprechung des OVG Saarland, siehe asyl.net: M26264, M25828, M25716.).

Schlagwörter: Syrien, UNRWA, Palästinenser, Staatenlosigkeit, staatenloser Palästinenser, Schutz, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz, eo-ipso-Flüchtling, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3 Abs. 3 S. 2, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 2, AsylG § 4, GFK Art. 1 D. GFK Art. 1 D S. 2, RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 3, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, GFK Art. 1 C Nr. 6 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 11 Abs. 1 Bst. f, AsylG § 73 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht als staatenlosem Palästinenser mit dauerhaften Aufenthalt in Syrien zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der internationale Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 und 2 sowie § 4 AsylG zu (wie hier vgl. im Ergebnis auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2017 - A 11 S 664/17 – juris; O\/G Saarland, Urteile vom 21 09.2017 - 2 A 447/17 - und vom 18.12.2017 – 2 A 541/17 - juris). [...]

Als Nachweis einer Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistandes genügt es, wenn der Betroffene von UNRWA förmlich registriert ist. Nichtregistrierte Betroffene müssen den Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme des Schutzes und des Beistandes der UNRWA auf andere Weise erbringen (vgl. EuGH, Urteil vom 17.06.2010 - C-31/09 -, a.a.O., Rdn. 52).

(c) Zum Wegfall des Schutzes und des Beistandes i.S.v. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG und Art. 12 Abs. 1 lit. a) S. 2 RiLi 2011/95/EU führt nicht nur die Auflösung der diesen gewährenden Organisation oder Institution, also der UNRWA, sondern auch die allgemeine Unmöglichkeit für die UNRWA, ihre Aufgabe effektiv (vgl. UNHCR, Note über die Anwendbarkeit von Artikel 1 D des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf palästinensische Flüchtlinge, 10/2002, Abschnitt B Nr. 9) zu erfüllen. Darüber hinaus kann der Grund, aus dem der Beistand nicht länger gewährt wird, ebenfalls auf Umständen beruhen, die, da sie vom Betroffenen nicht kontrolliert werden können und von seinem Willen unabhängig sind, ihn dazu zwingen, das Einsatzgebiet der UNRWA zu verlassen und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen.

Dies ergibt sich aus der Formulierung in Art. 1 Abschnitt D Satz 2 GFK wie auch in Art. 12 Abs. 1 lit. a) Satz 2 RiLi 2011/95/EU, wonach ein Betroffener ipso facto den Schutz der GFK bzw. der Richtlinie genießt, wenn der Schutz und Beistand der UNRWA "aus irgend einem Grund" nicht länger gewährt wird (EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - C-364/11 – a.a.O., Rdn. 58). Zwar fehlt in der Umsetzungsvorschrift des § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG diese Wendung, sie ist jedoch richtlinienkonform dahingehend auszulegen. [...]

Zwar geht die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass nicht schon vorübergehende Vorkommnisse einen Wegfall der Betreuung durch die UNRWA bewirken, sondern nur solche, denen Dauerhaftigkeit zukommt (BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 1 C 21.87 - juris). Soweit danach ein tatsächlicher Wegfall des Schutzes insbesondere dann nicht vorliegen würde, wenn die UNRWA im Mandatsgebiet durch eine bürgerkriegsartige Situation an der erforderlichen Schutzgewährung gehindert wird (BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 1 C 21.87 – a.a.O., Rdn. 26) bzw. die UNRWA in dem betreffenden Einsatzgebiet noch (irgendwie) tätig ist, obwohl im übrigen die allgemeinen oder besonderen Lebensbedingungen, denen der Betroffene dort ausgesetzt ist, es zwingend erscheinen lassen, dass er das Land verlässt (BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 – 1C 21.87 - a.a.O., Rdn. 30), ist diese höchstrichterliche Rechtsprechung angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu modifizieren.

Auch nach dieser (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - C-364/11 - a.a.O. Rdn. 49 ff.) kann freilich die bloße Abwesenheit des Betroffenen von diesem Gebiet oder die freiwillige Entscheidung, es zu verlassen, nicht als Wegfall des Beistands eingestuft werden. Ist diese Entscheidung jedoch durch Zwänge begründet, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, kann eine solche Situation zu der Feststellung führen, dass der Beistand, den diese Person genossen hat, nicht länger gewährt wird.

(dd) Insbesondere in (Bürger-)Kriegssituationen von einiger Dauer und Intensität liegt es mehr als nahe, dass die UNRWA einen mandatsentsprechenden effektiven Schutz und Beistand nicht länger gewähren kann. [...]

(ee) Für die Frage, wie das für die Prüfung maßgebliche Einsatzgebiet der UNRWA geographisch abzugrenzen ist, folgt aus dem Rechtsgedanken in Art. 1 Abschnitt C Nr. 6 Satz 1 GFK und in Art. 11 Abs. 1 lit. f) RiLi 2011/95/EU bzw. in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG, dass dabei nicht auf das gesamte Mandatsgebiet der UNRWA abzustellen ist, sondern auf das Gebiet des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - C-354/11 - a.a.O., Rdn. 77, vgl. auch UNHCR, Note über die Anwendbarkeit von Artikel 1 D des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf palästinensische Flüchtlinge, 10/2002, Abschnitt B, Nr. 8 lit. [ii]). [...]

(3) Für den Fall, dass danach die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG vorliegen, wird die Flüchtlingseigenschaft "ipso facto" d.h. unmittelbar ohne eine Einzelfallprüfung der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt. Zwar verwendet diese Vorschrift des Asylgesetzes die Formulierung "ipso facto" in Art. 12 Abs. 1 lit. a) Satz 2 RiLi 2011/95/EU (vgl. auch Art. 1 Abschnitt D Satz 2 GFK) nicht, sie ist jedoch richtlinienkonform dahingehend auszulegen. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG ist insoweit eine Rechtsfolgenverweisung. [...]

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen in der Person des Klägers die Voraussetzungen vor, ihm ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zu gewähren.

aa) Der den Flüchtlingsschutz beantragende Kläger hat den Schutz der UNRWA - wie ausgeführt, einer Organisation im Sinne des § 3 Abs. 3 AsylG - tatsächlich genossen. Dies steht zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund der vom Kläger im Original vorgelegten "UNRWA-Family Record Card" [GA, Bl. 154 f.], die am 26.02.2014 von UNRWA in Dar'a für seine Familie unter der "Family Registration ID …" erstellt wurde und weiterer vorgelegter Dokumente, insbesondere einem Auszug aus dem Register der Arabischen Palästinenser [GA. Bl. 177 ff.] und den Auszügen aus dem Personenstandsregister [GA, Bl. 170 ff., 177-195] für alle Familienmitglieder sowie aufgrund seiner weiteren glaubhaften Schilderungen fest. [...]

bb) Der Wegzug des Klägers aus dem Flüchtlingslager Dar'a und aus dem UNRWA-Einsatzgebiet "Syrien" ist durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt, die ihn zum Verlassen dieses Gebiets zwingen und somit daran hindern, den vom UNRWA gewährten Beistand zu genießen. [...]

(1) Dass der Schutz oder Beistand im - hier als maßgeblich anzusehenden - Gebiet des gewöhnlichen Aufenthalts, nämlich Syrien, aus Umständen weggefallen ist, die vom Willen des Klägers unabhängig waren, folgt unschwer aus der Tatsache, dass ihm wegen der Bürgerkriegssituation in Syrien die subsidiäre Schutzberechtigung zugesprochen wurde. Wenn im Einsatzgebiet der VN-Organisation Krieg herrscht, muss in der Regel davon ausgegangen werden, dass dort der Schutz nicht länger besteht (Dt. Bundestag, BT-Drs. 18/1201 vom 20.04.2016, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE - Drucksache 18/8001 - ad Nr. 21). [...]