VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 03.08.2018 - 5 K 1602/16 - asyl.net: M26525
https://www.asyl.net/rsdb/M26525
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Sohn eines Geschäftsmanns aus Afghanistan wegen Bedrohung durch Kriminelle:

1. Dem Sohn eines als vermögend angesehenen Geschäftsmanns, der einem Entführungsversuch ausgesetzt war, droht unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bis hin zu Tötung durch nichtstaatliche Akteure.

2. Der afghanische Staat oder sonstige Organisationen sind nicht in der Lage, wirksam und dauerhaft Schutz vor krimineller Bedrohung zu gewähren.

3. Keine interne Fluchtalternative. Die Hauptstadt Kabul bietet nach ständiger Rechtsprechung der Kammer keinen dauerhaften internen Schutz. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Betroffene in seiner Heimatstadt Kabul früher oder später von seinen Verfolgern entdeckt werden würde, was auch für andere größere Städte in Afghanistan gilt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Kriminalität, Kabul, interne Fluchtalternative, subsidiärer Schutz, nichtstaatliche Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Geschäftsmann, Familienangehörige, Entführung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Denn jedenfalls fehlt es an einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG geforderten Verfolgungsgründe. Der Kläger war nicht wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. einem der in § 3b Abs. 1 AsylG benannten weiteren Gründe, sondern wegen des vermeintlichen Vermögens seines Vaters von einer Entführung durch Kriminelle bedroht. Mangels eines anerkannten Verfolgungsgrunds fehlt es sodann auch an der von § 3a Abs. 3 AsylG vorausgesetzten Verknüpfung zwischen einem solchen und den vorgetragenen Verfolgungshandlungen. [...]

Der Kläger hat aber zur Überzeugung des Gerichts wegen der von ihm vorgetragenen Bedrohung seiner Person Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. [...]

2. Hiervon ausgehend sind Anhaltspunkte für die Annahme, dass dem Kläger in Afghanistan die Todesstrafe, eine konkrete Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen Bestrafung droht, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Zur Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger in seinem Heimatland aber eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bis hin zur Tötung durch nichtstaatliche Akteure im Verständnis von § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG. [...]

Der Kläger hat durchgängig und im Wesentlichen widerspruchsfrei vorgetragen, dass er wenige Tage vor seiner Ausreise aus Afghanistan einem Entführungsversuch durch kriminelle Personen zwecks Erpressung einer Geldzahlung von seinem wegen seiner Tätigkeit als Geschäftsmann als vermögend angesehenen Vater ausgesetzt war, seinem Vater von diesen eine erneute Entführungsaktion angedroht wurde und eine frühere Anzeige seines Vaters bei der Polizei trotz Ermittlungsversuchen nicht nur erfolglos geblieben, sondern kontraproduktiv war, so dass er, der Kläger, sich dem nur durch Verstecken bei einer Tante und letztlich seine gemeinsam mit seinem Vater erfolgte Ausreise entziehen konnte. [...]

Es kann im vorliegenden Einzelfall auch nicht davon ausgegangen werden, dass der afghanische Staat oder eine sonstige Organisation zu einer wirksamen und dauerhaften Schutzgewährung im Sinne der §§ 4 Abs. 3, 3d Abs. 1 und Abs. 2 AsylG gegenüber dem Kläger in der Lage war und ist. Zur Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden heißt es etwa im "Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30.09.2013 (Seite 15):

"Die schwache Regierungsführung, verbreitete Korruption sowie die Tatsache, dass diejenigen Akteure, welche den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten sollen, selber immer wieder Menschenrechtsverletzungen begehen und dafür mit Straffreiheit ausgehen, unterminieren die Schutzfähigkeit der afghanischen Regierung. Zudem kann die Polizei in weiten Teilen des Landes nicht auf ein funktionierendes Justizsystem zurückgreifen und wird in zahlreichen Fällen von der Regierung nicht unterstützt. Weiter wird die Schutzfähigkeit des afghanischen Staates durch die schlechte Sicherheitslage stark eingeschränkt. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, etwa von regierungsfeindlichen Gruppierungen illegal ausgeführte menschenrechtsverachtende "Strafen" strafrechtlich zu verfolgen."  [...]

In Anbetracht dessen konnte der Kläger weder im Zeitpunkt seiner Ausreise effektiven Schutz hinreichend zuverlässig erlangen, noch wäre ihm dies im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung möglich (vgl. dazu allgemein Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3c Rn. 6). Vielmehr lässt es die Auskunftslage plausibel erscheinen, dass der Kläger bei der afghanischen Polizei keinen effektiven Schutz vor den kriminellen Erpressern und Entführen finden konnte und eine frühere Anzeige seines Vaters bei dieser ebenso wie deren Ermittlungsversuche nicht nur ohne Erfolg geblieben sind, sondern die Gefährdung sogar erhöht haben.

Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer bietet - in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls - ggf. auch die Hauptstadt Kabul, aus der der Kläger hier stammt, keinen dauerhaften internen Schutz im Verständnis von §§ 4 Abs. 3, 3e AsylG bzw. Art. 8 ARL (vgl. nur Urteile vom 12.07.2018 - 5 K 1339/16 -, 30.05.2018 - 5 K 1199/16 und 1262/16 -, sowie vom 29.01.2018 - 5 K 1398/16 und 5 K 1360/16 -; vgl. auch Urteile der Kammer vom 11.05.2016 - 5 K 61/15 -, 06.05.2015 - 5 K 2100/14 -, 03.09.2014 - 5 K 391/14 - und 20.08.2014 - 5 K 60/14). Dies gilt zur Überzeugung des Gerichts fallbezogen auch für den Kläger. Aufgrund des Umstandes, dass der Kläger eine ernsthafte Gefährdung seitens krimineller Personen gerade in seiner Heimatstadt Kabul glaubhaft dargetan hat, ist davon auszugehen, dass dieser wegen der von ihm geschilderten Probleme dort früher oder später entdeckt und bedroht wird. Dies ist hier auch für die anderen größeren Städte wie Herat oder Mazar-e Sharif sowie die afghanischen Provinzen anzunehmen. [...]