EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 05.07.2018 - C-213/17 X. gg. die Niederlande - asyl.net: M26584
https://www.asyl.net/rsdb/m26584
Leitsatz:

Wiederaufnahmegesuch, Zuständigkeit und Selbsteintritt im Dublinverfahren:

1. Versäumt es ein Mitgliedstaat, rechtzeitig ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen, wird er auch dann für die Prüfung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz zuständig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung zuvor gestellter Anträge auf internationalen Schutz zuständig war und zum anderen der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines dieser Anträge bei Ablauf der genannten Fristen bei einem Gericht des anderen Mitgliedstaats noch anhängig war, Art. 23 Dublin III-VO.

2. In Fällen von unbeantworteten Wiederaufnahmegesuchen ist der ersuchende Mitgliedstaat nicht verpflichtet, die Entscheidung über ein eingelegtes Rechtsmittel auszusetzen und abzuwarten, ob der ersuchte Mitgliedstaat dem Gesuch stattgibt, um ggf. dann die Prüfung einzustellen, Art. 18 Abs. 2 Dublin III VO.

3. Der ersuchende Mitgliedstaat muss dem ersuchten Mitgliedstaat nach Ablauf der Frist nach Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO nicht darüber informieren, dass ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, Art. 24 Dublin III-VO.

4. Die Zuständigkeit geht nicht allein dadurch auf den zweiten Mitgliedstaat über, weil diesem eine Person in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls übergeben wurde. Vielmehr steht es ihm offen, beim weiterhin zuständigen Mitgliedstaat die Wiederaufnahme zu beantragen. Jedenfalls ist er nicht verpflichtet, den Selbsteintritt zu erklären.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Europäischer Haftbefehl, Auslieferung, Wiederaufnahme, Selbsteintritt, Ermessen, X,
Normen: VO 604/2013 Art. 23 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 24 Abs. 5, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 24,
Auszüge:

[...]

1. Ist Art. 23 Abs. 3 der Dublin III-Verordnung so zu verstehen, dass Italien für die Prüfung des vom Kläger dort am 23. Oktober 2014 gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig geworden ist, obwohl das Königreich der Niederlande aufgrund der dort zuvor gestellten Anträge auf internationalen Schutz, von denen der zuletzt gestellte zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden noch geprüft wurde, weil der Raad van State (Staatsrat) über das vom Kläger gegen die Entscheidung des vorlegenden Gerichts vom 7. Juli 2014 eingelegte Rechtsmittel noch nicht entschieden hatte, der primär zuständige Mitgliedstaat war?

2. Folgt aus Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung, dass die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz, die in den Niederlanden noch lief, als am 5. März 2015 das Gesuch um Anerkennung der Zuständigkeit gestellt wurde, von den niederländischen Behörden nach der Stellung dieses Gesuchs unverzüglich hätte ausgesetzt und nach Ablauf der in Art. 24 vorgesehenen Frist durch Rücknahme oder Änderung der zuvor ergangenen Entscheidung vom 11. Juni 2014, mit der der Asylantrag vom 4. Juni 2014 abgelehnt worden war, hätte eingestellt werden müssen?

3. Falls die zweite Frage zu bejahen ist, ist dann die Zuständigkeit für die Prüfung des vom Kläger gestellten Antrags auf internationalen Schutz nicht auf Italien übergegangen, sondern bei den niederländischen Behörden verblieben, weil der Beklagte die Entscheidung vom 11. Juni 2014 nicht zurückgenommen oder geändert hat?

4. Haben die niederländischen Behörden dadurch, dass sie nicht mitgeteilt haben, dass in den Niederlanden beim Raad van State (Staatsrat) noch ein Rechtsmittel im zweiten Asylverfahren anhängig war, ihre nach Art. 24 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung bestehende Pflicht verletzt, den italienischen Behörden Informationen zu liefern, anhand deren sie prüfen konnten, ob ihr Staat auf der Grundlage der in dieser Verordnung festgelegten Kriterien zuständig ist?

5. Falls die vierte Frage zu bejahen ist, führt diese Pflichtverletzung dann zu dem Ergebnis, dass dadurch die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz nicht auf Italien übergegangen, sondern bei den niederländischen Behörden verblieben ist?

6. Sofern die Zuständigkeit nicht bei den Niederlanden verblieben ist, hätten die niederländischen Behörden dann im Zusammenhang mit der Auslieferung des Klägers aus Italien an die Niederlande im Rahmen seiner Strafsache aufgrund von Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung, abweichend von Art. 3 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung, den von ihm in Italien gestellten Antrag auf internationalen Schutz prüfen müssen, und hätten sie infolgedessen vernünftigerweise keinen Gebrauch von der in Art. 24 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung vorgesehenen Befugnis machen dürfen, die italienischen Behörden um die Wiederaufnahme des Klägers zu ersuchen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 23 Abs. 3 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, für dessen Prüfung zuständig ist, wenn er innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung festgelegten Fristen kein Wiederaufnahmegesuch gestellt hat, obwohl zum einen ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung zuvor gestellter Anträge auf internationalen Schutz zuständig war und zum anderen der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines dieser Anträge bei Ablauf der genannten Fristen bei einem Gericht des anderen Mitgliedstaats noch anhängig war.

26 Für die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur der Wortlaut der betreffenden Vorschrift, sondern es sind auch ihr Kontext und die allgemeine Systematik der Regelung, zu der sie gehört, sowie die von dieser verfolgten Ziele zu berücksichtigen.

27 Der Anwendungsbereich des Wiederaufnahmeverfahrens ist in den Art. 23 und 24 der Dublin IIIVerordnung festgelegt. Aus Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt sich, dass das Wiederaufnahmeverfahren u.a. auf Personen im Sinne ihres Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. April 2017, Ahmed, C-36/17, EU:C:2017:273, Rn. 26 und 27, sowie Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan, C-360/16, EU:C:2018:35, Rn. 42 und 43).

28 Die letztgenannte Vorschrift erfasst u. a. Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde und die in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Antrag gestellt haben.

29 Aus Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung ergibt sich, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung u. a. die Fälle erfasst, in denen "der Antrag nur in erster Instanz abgelehnt worden ist".

30 Der Unionsgesetzgeber hat ausdrücklich vorgesehen, dass der zuständige Mitgliedstaat in diesen Fällen sicherstellt, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat oder hatte, gegen diese Entscheidung einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 46 der Richtlinie 2013/32 einzulegen.

31 Da der genannte Art. 46 das Recht vorsieht, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung der zuständigen Behörde einzulegen, ist davon auszugehen, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin III-Verordnung insbesondere die Fälle erfasst, in denen der Antrag auf internationalen Schutz durch eine Entscheidung dieser Behörde abgelehnt wurde, die noch nicht bestandskräftig geworden ist.

32 Das in Art. 23 der Dublin III-Verordnung vorgesehene Wiederaufnahmeverfahren ist daher auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar, der in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, obwohl ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz durch eine Entscheidung der zuständigen Behörden abgelehnt worden war, auch wenn diese Entscheidung infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs, der bei einem Gericht des letztgenannten Mitgliedstaats anhängig ist, noch nicht bestandskräftig geworden ist.

33 In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens hatten die Behörden des Mitgliedstaats, bei dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, folglich die Möglichkeit, nach Art. 23 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung ein Gesuch um Wiederaufnahme der betreffenden Person zu stellen.

34 Allerdings hat er nach Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung das Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Fristen zu stellen; nach Ablauf dieser Fristen kann ein solches Gesuch nicht mehr wirksam gestellt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C-670/16, EU:C:2017:587, Rn. 67).

35 Sowohl aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 3 der Dublin III-Verordnung als auch aus ihrer Systematik und ihren Zielen ergibt sich, dass bei Ablauf dieser Fristen die Zuständigkeit von Rechts wegen auf den Mitgliedstaat  übergeht, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist (vgl. entsprechend Urteile vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C-670/16, EU:C:2017:587, Rn. 61, und vom 25. Oktober 2017, Shiri, C-201/16, EU:C:2017:805, Rn. 30).

36 Dieser Übergang der Zuständigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer Mitgliedstaat für zuvor gestellte Anträge auf internationalen Schutz zuständig war und der gegen die Ablehnung eines dieser Anträge eingelegte Rechtsbehelf bei Ablauf der Fristen bei einem Gericht dieses Mitgliedstaats anhängig war.

37 Insoweit ist hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber, indem er genau bestimmt hat, welche Folgen der Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung aufgestellten Fristen hat, eindeutig vorgesehen hat, dass Verzögerungen, die dem Mitgliedstaat zuzurechnen sind, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, mit einem Übergang der Zuständigkeit verbunden sein müssen, ohne diese Regel auf bestimmte spezifische Wiederaufnahmeverfahren zu beschränken und insbesondere ohne diesen Übergang der Zuständigkeit von den Modalitäten des Ablaufs von Verfahren über Anträge auf internationalen Schutz, die zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden sind, abhängig zu machen.

38 Diese Lösung kann zwar den Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, veranlassen, den Antrag auch dann zu prüfen, wenn in einem anderen Mitgliedstaat eine Prüfung eines von derselben Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz durchgeführt wird oder bereits abgeschlossen ist.

39 Es handelt sich hierbei jedoch um eine Konsequenz der Entscheidungen des Unionsgesetzgebers, da dieser in den von den Wiederaufnahmeverfahren erfassten Situationen allgemein einen solchen Übergang der Zuständigkeit vorgesehen hat, obwohl der Anwendungsbereich dieser Wiederaufnahmeverfahren, wie sich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin III-Verordnung ergibt, u. a. Situationen erfasst, in denen in einem anderen Mitgliedstaat Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren laufen oder abgeschlossen worden sind.

40 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 23 Abs. 3 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, für dessen Prüfung zuständig ist, wenn er innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung festgelegten Fristen kein Wiederaufnahmegesuch gestellt hat, obwohl zum einen ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung zuvor gestellter Anträge auf internationalen Schutz zuständig war und zum anderen der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines dieser Anträge bei Ablauf der genannten Fristen bei einem Gericht des anderen Mitgliedstaats noch anhängig war.

Zur zweiten Frage

41 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat dadurch, dass er ein Gesuch um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen stellt, der sich ohne Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet aufhält, verpflichtet wird, die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz auszusetzen und anschließend, falls der ersuchte Mitgliedstaat dem Gesuch stattgibt, die Prüfung einzustellen.

42 Zwar sind in Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung verschiedene Anforderungen an die Behandlung eines Antrags auf internationalen Schutz festgelegt, die vom Stand des betreffenden Verfahrens des internationalen Schutzes abhängen; diese Anforderungen sollen jedoch alle den Fortgang des Verfahrens des internationalen Schutzes gewährleisten und verpflichten nicht dazu, das Verfahren in irgendeinem Mitgliedstaat auszusetzen oder zu unterbrechen.

43 Zudem gibt es in dieser Vorschrift keinen Anhaltspunkt dafür, dass die darin aufgestellten Anforderungen für den ersuchenden Mitgliedstaat gelten. Nach der allgemeinen Systematik von Art. 18 soll mit diesen Anforderungen vielmehr festgelegt werden, welche Behandlung der betreffenden Person nach ihrer Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat zu gewährleisten ist.

44 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat dadurch, dass er ein Gesuch um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen stellt, der sich ohne Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet aufhält, nicht verpflichtet wird, die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz auszusetzen und anschließend, falls der ersuchte Mitgliedstaat dem Gesuch stattgibt, die Prüfung einzustellen.

Zur dritten Frage

45 In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage ist die Beantwortung der dritten Frage nicht erforderlich.

Zur vierten Frage

46 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 24 dieser Verordnung stellt, nach Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung vorgesehenen Fristen im ersuchten Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Behörden des ersuchten Mitgliedstaats mitzuteilen, dass bei einem Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz anhängig ist.

47 Nach Art. 24 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung ist für ein Wiederaufnahmegesuch ein Standardformblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien im Sinne der beiden Verzeichnisse nach Art. 22 Abs. 3 dieser Verordnung oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung der betroffenen Person enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat auf Grundlage der in dieser Verordnung festgelegten Kriterien zuständig ist.

48 Bereits aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung ergibt sich somit, dass sich die Pflicht des ersuchenden Mitgliedstaats zur Übermittlung von Informationen auf die Angaben beschränkt, die es dem ersuchten Mitgliedstaat ermöglichen, seine Zuständigkeit zu prüfen.

49 Diese Auslegung wird durch die allgemeine Systematik der Dublin III-Verordnung gestützt, da ein Wiederaufnahmegesuch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beiträgt und dem ersuchten Mitgliedstaat ermöglichen muss, gemäß Art. 25 Abs. 1 dieser Verordnung die zur Feststellung seiner Zuständigkeit erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen.

50 Aus den Antworten auf die erste und die zweite Frage folgt, dass es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats auf dem Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung vorgesehenen Fristen beruht, für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats unerheblich ist, dass bei einem Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz anhängig ist.

51 Folglich sind Informationen über einen solchen Rechtsbehelf dem ersuchten Mitgliedstaat bei der Prüfung seiner Zuständigkeit nicht von Nutzen und müssen daher nicht zwingend nach Art. 24 Abs. 5 dieser Verordnung übermittelt werden.

52 Dieses Ergebnis wird durch die in dieser Vorschrift genannten und in Anhang II der Verordnung Nr. 1560/2003 enthaltenen Verzeichnisse sowie das einheitliche Formular für Wiederaufnahmegesuche in Anhang III der Verordnung Nr. 1560/2003 bestätigt. In diesen Verzeichnissen und in diesem Formular wird nämlich in keiner Weise auf Rechtsbehelfsverfahren gegen Ablehnungen von zuvor gestellten Anträgen auf internationalen Schutz Bezug genommen.

53 Folglich ist Art. 24 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 24 dieser Verordnung stellt, nach dem Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung vorgesehenen Fristen im ersuchten Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, den Behörden des ersuchten Mitgliedstaats mitzuteilen, dass bei einem Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz anhängig ist.

Zur fünften Frage

54 Angesichts der Antwort auf die vierte Frage erübrigt sich die Beantwortung der fünften Frage.

Zur sechsten Frage

55 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren zum Zeitpunkt der Überstellungsentscheidung bestehenden, in der eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, von einem ersten Mitgliedstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls an einen zweiten Mitgliedstaat übergeben wurde und sich im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält, ohne bei diesem einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, der zweite Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat nicht wirksam um Wiederaufnahme der betreffenden Person ersuchen kann, sondern im Gegenteil beschließen muss, den von dieser gestellten Antrag zu prüfen.

56 Nach Art. 24 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung kann ein Mitgliedstaat u.a. einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung wiederaufzunehmen, die sich ohne Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet aufhält, ohne dort einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat nach der letztgenannten Vorschrift zuständig ist.

57 Da diese Vorschrift kein Erfordernis hinsichtlich der Modalitäten der Einreise der betreffenden Person in das Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats enthält, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber die Befugnis zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht von irgendeiner diesbezüglichen Voraussetzung abhängig gemacht hat.

58 In diesem Kontext und angesichts der Autonomie der in der Dublin III-Verordnung bzw. dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) vorgesehenen Verfahren, die unterschiedliche Ziele verfolgen und nicht austauschbar sind, ist die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht bereits deswegen ausgeschlossen, weil die Einreise in das Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats durch Übergabe in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgte.

59 Die entgegengesetzte Lösung könnte die Mitgliedstaaten im Übrigen davon abhalten, die Übergabe einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, zur Strafverfolgung zu verlangen, um zu vermeiden, dass die Zuständigkeit für den Antrag der betreffenden Person nach Abschluss des Strafverfahrens auf sie übergeht. Diese könnte die Nichtahndung von Straftaten befördern und der Wirksamkeit der Strafverfolgung in dem betreffenden Mitgliedstaat schaden.

60 Im Übrigen ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung, dass diese Vorschrift jeden Mitgliedstaat ermächtigt, zu beschließen, "einen bei ihm … gestellten Antrag auf internationalen Schutz" zu prüfen. Diese Vorschrift hat somit weder zum Zweck noch zur Folge, dass einem Mitgliedstaat die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ermöglicht wird, der nicht bei ihm gestellt worden ist.

61 Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Ziel dieser Vorschrift, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Dezember 2013, Abdullahi, C-394/12, EU:C:2013:813, Rn. 57, und vom 16. Februar 2017, C. K. u.a., C-578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53).

62 Folglich kann diese Vorschrift der Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die betreffende Person keinen neuen Antrag auf internationalen Schutz beim ersuchenden Mitgliedstaat gestellt hatte, keinesfalls entgegenstehen.

63 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren zum Zeitpunkt der Überstellungsentscheidung bestehenden, in der eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, von einem ersten Mitgliedstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls an einen zweiten Mitgliedstaat übergeben wurde und sich im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält, ohne bei diesem einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, der zweite Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat um Wiederaufnahme der betreffenden Person ersuchen kann und nicht beschließen muss, den von dieser gestellten Antrag zu prüfen. [...]