VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, vom 06.09.2018 - 3 A 503/16 - asyl.net: M26590
https://www.asyl.net/rsdb/M26590
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine alleinstehende staatenlose Palästinenserin aus Libyen ohne Berufsausbildung und familiären Rückhalt:

1. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dauerhaft in Libyen lebende Palästinenser aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise von einer Bürgerkriegspartei verfolgt werden.

2. Die allgemeine Gefahrenlage in Libyen hat sich nicht derart verdichtet, dass ohne persönliche gefahrerhöhende Umstände die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes gem. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG erfüllt wären. Zudem stellt die Region um Tobruk eine innerstaatliche Fluchtalternative dar.

3. Wegen der schwierigen humanitären Lage in Libyen ist bei einer alleinstehenden staatenlosen Palästinenserin ohne Berufsausbildung und wirksamen familiären Rückhalt davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage wäre, ihr Existenzminimum zu sichern. Daher sind die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hier gegeben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libyen, Palästinenser, alleinstehende Frauen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefahrendichte, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, interne Fluchtalternative, familiäre Beistandsgemeinschaft, soziale Gruppe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...] Die Klägerin gehört zwar als Palästinenserin zu einer derartigen sozialen Gruppe, trägt jedoch mit Ausnahme des Beispiels einer privaten Bedrohung in der Universität durch einen Mann mit einer Waffe und der Vertreibung ihrer Familie aus einer mietfreien Sozialwohnung durch aggressives Verhalten anderer Privater keine Tatsachen vor, dass sie die Gefahren des Bürgerkriegs wegen dieser Gruppenzugehörigkeit intensiver zu ertragen gehabt hätte als libysche Staatsangehörige. [...]

Die geschilderte Bedrohung durch einen jungen Mann erscheint keineswegs so, als beruhe sie auf ihrer Zugehörigkeit zum Volk der Palästinenser, sondern darauf, dass eher Interesse an ihr als Individuum bestanden hat. Offenbar konnte sich die Klägerin dieser Bedrohung durch Fernbleiben von der Universität wirksam entziehen. Hinsichtlich der Vertreibung aus der mietfreien Sozialwohnung dürfte eher Neid von libyschen Nachbarn auf die aus ihrer Sicht bevorzugte Wohnsituation der Familie der Klägerin und die zugleich lückenhafte Bereitschaft der örtlichen Sicherheitskräfte, dagegen Schutz zu gewähren, ursächlich gewesen sein. Der Umstand, dass gerade auch viele Palästinenser in solchen Wohnungen lebten, tritt lediglich ergänzend hinzu. [...]

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. […]

Gefahrerhöhende persönliche Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen. Soweit sie sich auf eine Bedrohung durch einen Mann auf dem Gelände der Universität beruft, ist nach den vorstehenden Ausführungen zu § 3 AsylG nicht hinreichend wahrscheinlich, dass sich die Klägerin in einer hinreichend konkreten individuellen Bedrohungslage befand. Da sie und ihre Familie die Sozialwohnung geräumt hatten, droht auch insofern keine Wiederholung. Derartige Umstände sind gegenwärtig auch sonst nicht ersichtlich. Die allgemeine Gefahrenlage in Libyen ist derzeit nicht hinreichend, um die genannten Voraussetzungen zu erfüllen. [...]

Überdies ist die Klägerin gemäß §§ 4 Abs. 3, 3e AsylG darauf zu verweisen, dass die Region um Tobruk eine innerstaatliche Fluchtalternative darstellt; Anschläge mit Personenschäden sind dort in den letzten zweieinhalb Jahren nicht mehr bekannt geworden. […]

Allerdings sind hinsichtlich der Klägerin die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben. [...]

Die humanitäre Versorgungssituation in Libyen insgesamt und auch in der Herkunftsregion der Klägerin ist angespannt. In Folge der andauernden Konflikte haben sich die Lebensverhältnisse der Zivilbevölkerung massiv verschlechtert, besonders betroffen ist hiervon das Gesundheitswesen, das wegen Medikamentenmangel und Krankenhausschließungen in einem prekären Zustand ist (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Libyen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 20.10.2017; Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Libyen des Auswärtigen Amtes vom 12.02.2018 - Stand: Januar 2018). Die Zivilbevölkerung hat zudem nur eingeschränkten Zugang zu Lebensmitteln, Bildungseinrichtungen, Strom- und Wasserversorgung (vgl. Amnesty International, Amnesty Report Libyen 2017 vom 18.05.2017). Überdies ist nach Schließung des letzten internationalen Flughafens in Libyen nicht vorstellbar, wie die Klägerin dorthin und dann noch dazu weiter in ihre Heimat Bengasi oder einen sichereren Ort gelangen sollte - vgl. UNHCR: Update vom September 2018 (Position on return to Libya, Rn. 37), Spiegel-Online (Aufstand gegen das Kartell von Tripolis), von Zeit-Online (Gefährliche Allianzen - Kämpfe in Tripolis), von Bild-Online (Gefechte um Tripolis - droht Libyen eine neue Flüchtlingswelle?), Welt-Online (Kämpfe in Tripolis - Europas Pläne für Libyen gehen im Kugelhagel unter) und von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V. (Libysche Küstenwache zusammengebrochen), Presse insgesamt vom 03. bis 05.09.2018 -.

In Bezug auf die Klägerin selbst geht das Gericht davon aus, dass diese wegen der schwierigen Situation in Libyen nicht in der Lage wäre, als Frau ohne Berufsausbildung ihren Lebensunterhalt durch menschenwürdige Erwerbstätigkeit zu bestreiten und sich zumindest das Existenzminimum zu sichern. Sie hat keinen erlernten Beruf und keinen wirksamen familiären Rückhalt in Libyen. […]

Mit Anfeindungen aus der Bevölkerung und willkürlich agierenden Sicherheitskräften müssten Palästinenser im ganzen Land rechnen. Zudem bestehe das Risiko, wegen illegaler Migration unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert zu werden. Aus einer Auskunft von ACCORD vom 19. Januar 2017 beruhend auf Auswertungen diverser Erkenntnismittel ergibt sich zur Lage der Palästinenser (Seite 4 ff.), dass die Palästinenser auch noch in der Nach-Gaddafi-Ära ab 2011 zahlreichen Anfeindungen aus der Bevölkerung ausgesetzt gewesen seien, da sie in Wohnungen gelebt hätten, die die vormaligen Besitzer, deren Grundgrundstücke vom Gaddafi-Regime konfisziert worden seien, [die sie] nunmehr wieder in Besitz nehmen wollten. Insbesondere in Bengasi sei über diskriminierende Behandlung berichtet worden. Palästinenser seien zu Sündenböcken gemacht worden und es hätten Gerüchte über ihre Verbindungen zu Milizen und radikalen Gruppen kursiert. Das scheine besonders stark für Palästinenser der Fall, die in Bengasi lebten.

Vorliegend hat die Klägerin als alleinstehende Frau ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei einer Rückkehr nach Libyen keine Chance, sich eine Existenz aufzubauen, die ihr ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht. So fristet zwar ihre Schwester mit ihrer Familie und dem kranken gemeinsamen Vater ihr Dasein in Bengasi auf engstem Raum, jedoch ergibt sich aus den glaubhaften Schilderungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass dort keineswegs die Möglichkeit besteht, sie zusätzlich unterzubringen, zu ernähren oder sonst bei einer Existenzgründung zu unterstützen.

Darüber hinaus ergibt sich aus den vorstehend dargelegten Erkenntnissen, dass gerade auch Palästinenser nicht sicher sein können, dass die ihnen grundsätzlich ermöglichte Erwerbstätigkeit auch auf Dauer möglich sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Themenpapier Libyen - palästinensische Flüchtlinge - vom 31.10.2017, S. 4 f) hinsichtlich für die alleinstehende junge Klägerin deutlich erhöhten Gefahr willkürlicher Übergriffe durch lokale Machthaber und ihre Gefolgsleute mit der Folge der Festsetzung sowohl von der Regierung kontrollierten als auch in extralegalen Haftanstalten als Palästinenserin besteht für sie bei einer Rückkehr die konkrete Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung durch Regierungsmilizen in deren Einflussbereich und ebenso aber auch durch jedwede lokalen Machthaber und deren Milizen in Gestalt von Entführung, Folterung, willkürliche Inhaftierung und anderer unmenschlicher Behandlung (vgl. dazu Länderinformationsblatt Libyen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 20.10.2017, S. 11). [...]