VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 16.08.2018 - 9 K 3892/17. TR - asyl.net: M26615
https://www.asyl.net/rsdb/M26615
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG für Gesamtfamilie aus Afghanistan mit minderjährigen Kindern und pflegebedürftiger Mutter des Familienvaters:

1. Genügt ein vorgelegtes Attest nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c und d AufenthG, kann die gesundheitliche Beeinträchtigung dennoch als Umstand gewertet werden, der ein Hindernis bei der Erwirtschaftung des Existenzminimums darstellt.

2. Bei einer 69-jährigen pflegebedürftigen Frau ist davon auszugehen, dass sie intensiver Betreuung durch ihre Angehörigen bedarf und die von ihr benötigten Medikamente, selbst wenn diese in Afghanistan beschafft werden können, die Kosten für die Sicherstellung des Lebensunterhalts für die Familie zusätzlich erhöhen würden.

3. Bilden mehrere Schutzsuchende eine Beistandsgemeinschaft, etwa wegen gemeinsamer Betreuung einer pflegebedürftigen Familienangehörigen, so müssen sie als Gesamtfamilie betrachtet werden.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzgrundlage, Kinder, minderjährig, pflegebedürftig, familiäre Beistandsgemeinschaft, Gesamtfamilie, Abschiebungsverbot, Attest, Krankheit, Existenzminimum, Erwerbstätigkeit, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60a Abs. 2d,
Auszüge:

[…]

Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. […]

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Afghanistan von einer problematischen wirtschaftlichen Situation geprägt ist, die zu einer schwierigen Versorgungslage führt. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die verbreitete Armut führt landesweit nach wie vor vielfach zu Mangelernährung. Staatliche soziale Sicherungssysteme existieren praktisch nicht. Erwerbsmöglichkeiten sind nur eingeschränkt vorhanden und die Arbeitslosenrate ist hoch (vgl. OVG RP, Urteil vom 21. März 2012, a.a.O., juris Rn. 64; vgl. zu den derzeit in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen etwa: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Afghanistan vom 31. Mai 2018). Bei Familien mit minderjährigen Kindern ist die Frage der Existenzsicherung allein durch Erwerbstätigkeit des Familienoberhauptes - im Gegensatz zu alleinstehenden leistungsfähigen Männern und verheirateten Paaren im berufsfähigen Alter ohne spezifische Einschränkungen - besonders streng zu prüfen (vgl. BayVGH, Urteil vom 23. März 2017 - 13a B 17.30030 - AuAS 2017, 175 und juris Rn. 16). […]

Dies vorausgeschickt ist im Falle der Kläger davon auszugehen, dass die Anforderungen an das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage bei einer Rückkehr nach Afghanistan unter den dargestellten dort herrschenden Rahmenbedingungen erfüllt sind. Den Klägern wird es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen, das für sie erforderliche Existenzminimum zu gewährleisten, sodass sie zeitnah in Lebensgefahr geraten würden. Der Kläger z. 1 würde nicht alleine, sondern mit seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Sohn, welcher gerade einmal drei Jahre alt ist, in sein Heimatland zurückkehren. Dieser Sohn bedürfte der uneingeschränkten Betreuung durch die Klägerin z. 2, die schon allein deshalb ihrerseits keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. Darüber hinaus ist sie gesundheitlich eingeschränkt. Selbst wenn das vorgelegte ärztliche Attest von Frauenärztin vom 1. August 2018 insoweit den gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthaltsG vorliegend nicht genügt, stellt der Umstand, dass die Klägerin z. 2 gesundheitlich beeinträchtigt ist, ein weiteres Hindernis bei der Erwirtschaftung des nötigen Existenzminimums für die Kläger z. 1-3 dar. Es ist nicht zu erwarten, dass der Kläger als einzige erwachsene männliche Person seiner Familie ein Auskommen erwirtschaften könnte. Auch verfügen die Kläger nach ihren eigenen glaubhaften Einlassungen in der mündlichen Verhandlung über keinerlei Vermögen mehr in Afghanistan. Auch hat die Kernfamilie der Kläger Afghanistan mittlerweile verlassen.

Hinsichtlich der Kläger z. 4-6 ist folgendes festzuhalten:

Bei der Klägerin z. 4 handelt es sich um eine mittlerweile 69-jährige ältere Dame, welche bereits im Hinblick auf ihr Alter (und ihr Geschlecht) keinerlei Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Die Klägerin z. 6 ist noch minderjährig, im Übrigen ist nicht davon auszugehen, dass auch für den Fall ihrer Volljährigkeit die Klägerin die Möglichkeit hätte, in Afghanistan ohne familiäre Unterstützung bzw. Vermittlung einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, die nicht nur ihr eigenes Existenzminimum, sondern auch das der Kläger z. 4 und 5 nachhaltig sichern könnte. Damit bliebe einzig und allein der Kläger z. 5, der mittlerweile volljährig geworden ist. Dieser ist voll belastbar und arbeitsfähig. Er müsste jedoch wie geschildert nicht nur den Unterhalt für sich selbst, sondern auch für seine minderjährige Schwester und seine hochbetagte Mutter erwirtschaften. Dies ist im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnismittel für eine Person wie den Kläger z. 6, welcher Afghanistan vor nunmehr fast drei Jahren verlassen hat und über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, zur Überzeugung des Gerichts nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit möglich.

Darüber hinaus ist auf folgendes hinzuweisen:

Die Klägerin z. 4 ist nicht nur aus Altersgründen nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Vielmehr ist sie auch gesundheitlich sehr angeschlagen. […] In einer Gesamtschau ist das Gericht, welches die Klägerin z. 4 auch persönlich in der mündliche Verhandlung als stark angeschlagen erlebte, davon überzeugt, dass die Klägerin intensiver Hilfe, Pflege und Betreuung durch ihre Angehörigen bedarf. Außerdem benötigt sie Medikamente, so dass, selbst wenn diese in Afghanistan beschafft werden könnten, die Kosten für die Sicherstellung des Lebensunterhaltes der Kläger Ziff. 4-6 noch höher wären, als wenn keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen vorlägen. Jedenfalls lägen die Kosten höher, als sie vom Kläger z. 5 erwirtschaftet werden könnten.

Es ist somit bereits aufgrund des eben Dargelegten sowohl für die Gemeinschaft der Kläger z. 1-3 wie auch diejenige der Kläger z. 4-6 nicht möglich, sich das erforderliche Existenzminimum selbst zu erwirtschaften.

Darüber hinaus ist folgendes festzuhalten:

Die Kläger müssen als Gesamtfamilie betrachtet werden. Denn der Kläger z. 1 ist der Sohn der Klägerin z. 4. Die .Familien wohnen auch in Deutschland gemeinsam und der - zur Überzeugung des Gerichts arbeitsfähige - Kläger z. 1 kümmert sich gemeinsam mit den Klägern z. 5 und 6 um die gebrechliche Klägerin z. 4. Die Kläger bilden daher einen Beistandsgemeinschaft, so dass sie sowohl bei isolierter Betrachtung wie auch noch verstärkt bei gemeinschaftlicher Betrachtung jedenfalls nicht in der Lage sind, das Existenzminimum für die gesamte Familie zu erwirtschaften. […]