VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 10.12.2018 - 2 A 846/17 - asyl.net: M26983
https://www.asyl.net/rsdb/M26983
Leitsatz:

Von Gewalt betroffene Frauen in Georgien sind keine keine "bestimmte soziale Gruppe":

"Frauen, die von familiärer Gewalt betroffen sind, werden von der georgischen Gesellschaft nicht als anders­artig betrachtet.

Für die Annahme einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung ist in den Fällen häuslicher Gewalt erforderlich, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den "Genderstatus" der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz systematisch wegen dieser "Genderfaktoren" versagt wird. Dies ist in Georgien nicht der Fall."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Georgien, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt, Yesiden, Frauen, soziale Gruppe, Upgrade-Klage, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die körperlichen Misshandlungen erfolgten jedoch nicht auf Grund eines flüchtlingsrelevanten Merkmals. In Betracht kommt insoweit allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

24 Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG)

25 Die Eigenschaft als Frau kann nach Auffassung des Gerichts nicht dazu führen, dass eine Person von der georgischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Frauen, die auch in Georgien einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen, werden dort nicht als "gesellschaftlicher Fremdkörper" (s. Bergmann/Dienelt/Bergmann, 12. Aufl. 2018, AsylG § 3b Rn. 2) eingestuft. Dass Frauen (yezidischer oder anderer Religionszugehörigkeit), die Opfer von familiärer Gewalt wurden, von der georgischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, kann das Gericht ebenfalls nicht feststellen (ebenso für Afghanistan: VG Greifswald, Urteil vom 06.12.2017 - 3 A 1424/16 As HGW -, juris, Rn. 48). Dagegen sprechen zum einen gesetzessystematische Gründe, weil insoweit die Verfolgungshandlung und der Verfolgungsgrund in unzulässiger Weise miteinander vermischt würden. Zum anderen spricht die Erkenntnislage dagegen. Denn Gewalt gegen Frauen ist in Georgien weiterhin ein verbreitetes Problem (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 27.08.2018, S. 9 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA) vom 07.06.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, S. 24, 32 f.).

26 Selbst wenn man das Vorliegen der Anforderungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 lit. b) AsylG für eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht für erforderlich halten sollte, ist für die Annahme einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung in den Fällen häuslicher Gewalt dennoch erforderlich, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den "Genderstatus" der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz systematisch wegen dieser "Genderfaktoren" versagt wird. Der entscheidende Umstand, der von häuslicher Gewalt betroffene Frauen von den Frauen einer Gesellschaft insgesamt abgrenzt, ist die evidente Tatsache institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem eines Staates (Marx, AsylG, 9. Aufl 2017, § 3b Rn. 33 und 27 m.w.N.; s.a. VG Köln, Urteil vom 12.07.2018 - 8 K 15907/17.A -, juris, Rn. 39 ff. m.w.N.: politische Dimension der Verfolgung erforderlich). [...]

28 Das Gericht kann aber weder feststellen, dass der georgische Staat Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, systematisch den erforderlichen Schutz verweigert, noch, dass die Verweigerung gerade deshalb erfolgt, weil die Betroffenen Frauen sind.

29 Gewalt gegen Frauen ist in Georgien weiterhin ein ernstes Problem und zählt derzeit zu den wichtigsten Menschenrechtsthemen der Regierung. Fälle häuslicher Gewalt werden von der Gesellschaft und Behörden meist als interne Familienangelegenheit betrachtet. Die Bereitschaft, dagegen Maßnahmen zu ergreifen, nimmt jedoch weiterhin zu. In der Gesetzgebung hat es bereits bedeutende Änderungen gegeben. Die Regierung bereitet derzeit Gesetzesänderungen vor, um eine am 01.09.2017 in Georgien in Kraft getretene Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt von 2011 umzusetzen. Die Erfassung von Fällen häuslicher Gewalt bei der Polizei hat nach Aufklärungskampagnen und einer deutlichen Veränderung der öffentlichen Einstellung zugenommen. Dennoch werden gesetzliche Regelungen gegen Diskriminierung von Frauen und gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt in den weitgehend patriarchalischen Gesellschafts- und Familienstrukturen noch nicht ausreichend angewandt. Nach Ansicht der zuständigen Ombudsperson sind Maßnahmen zur Verhütung von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen nicht wirksam, da es kein angemessenes System zum Schutz, zur Unterstützung und zur Rehabilitation von Gewaltopfern gibt. Infolgedessen bleiben die Strafverfolgung oder Wegweisung von Tätern und Fragen der psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Rehabilitation von Gewaltopfern problembehaftet (Lagebericht, a.a.O., S. 9 f.; BFA vom 07.06.2018, a.a.O., S. 24, 32 f.; s.a. VG Oldenburg, Urteil vom 03.07.2018 - 7 A 9004/17 - V.n.b.).

30 Daraus ergibt sich, dass in Georgien zwar noch staatlicher Handlungsbedarf im Hinblick auf die Bekämpfung häuslicher Gewalt besteht. Der georgische Gesetzgeber wird jedoch zum Schutz von Frauen tätig, so dass nicht von einer institutionalisierten Diskriminierung gesprochen werden kann. Defizite in der Umsetzung hängen zudem nicht unmittelbar damit zusammen, dass die Betroffenen häuslicher Gewalt Frauen sind, sondern in erster Linie mit einer Einstufung häuslicher Gewalt als interne Familienangelegenheit. [...]