EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 11.04.2019 - C-483/17 - Tarola gg. Irland - asyl.net: M27187
https://www.asyl.net/rsdb/m27187
Leitsatz:

Erwerbstätigeneigenschaft nach zwei Wochen Berufstätigkeit:

1. Eine Person mit Unionsbürgerschaft erwirbt die unionsrechtliche Erwerbstätigeneigenschaft, wenn sie anders als aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags zwei Wochen erwerbstätig war und unfreiwillig arbeitslos geworden ist. Diese bleibt ihr für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erhalten, sofern sie sich dem zuständigen Arbeitsamt zu Verfügung stellt.

2. Schließt das nationale Recht Personen, die unselbstständige oder selbstständige Tätigkeiten nur für einen kurzen Zeitraum ausgeübt haben, vom Sozialleistungsbezug aus, so muss dies im Einklang mit dem unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz geschehen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 20.12.2017 - C-442/16 Gusa gg. Irland - asyl.net: M25780, Urteil vom 15.09.2015 - C-67/14 (Alimanovic gegen Deutschland) (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 355 ff.) - asyl.net: M23179)

Schlagwörter: Unionsbürger, Unionsrecht, Erwerbstätigeneigenschaft, Arbeitnehmer, Wanderarbeitnehmer, Arbeitslosigkeit, Sozialleistungen, Neculai Tarola, Irland
Normen: RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. a, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1
Auszüge:

[...]

39 Im vorliegenden Fall ergibt sich zunächst aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, dass die in Art. 7 Abs. 3 vorgesehene Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft jedem Unionsbürger zuerkannt wird, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit gleich welcher Art ausgeübt hat, d. h., gleich ob er eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn. 37 und 38). [...]

41 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/38, die nach ihrem Art. 1 Buchst. a insbesondere die Bedingungen festlegen soll, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, eine Abstufung des jedem Bürger im Aufnahmemitgliedstaat gewährten Aufenthaltsrechts vornimmt, indem sie zwischen dem in Art. 6 geregelten Recht auf Aufenthalt für weniger als drei Monate und dem in Art. 16 geregelten Recht auf Daueraufenthalt ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate vorsieht, das in ihrem Art. 7 geregelt ist.

42 So garantiert Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 jedem Arbeitnehmer oder Selbständigen insbesondere ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat für mehr als drei Monate.

43 Ferner garantiert Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie jedem vorübergehend nicht erwerbstätigen Unionsbürger die Aufrechterhaltung seiner Erwerbstätigeneigenschaft und infolgedessen seines Rechts auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, indem er bei den Voraussetzungen dieser Aufrechterhaltung ebenfalls eine Abstufung vornimmt, die – wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – zum einen vom Grund seiner Untätigkeit, im vorliegenden Fall je nachdem, ob er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls arbeitsunfähig ist, unfreiwillig arbeitslos ist oder sich in einer Berufsausbildung befindet, und zum anderen von der ursprünglichen Dauer seiner Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat, d. h. je nachdem, ob diese Dauer länger oder kürzer als ein Jahr ist, abhängt.

44 Somit bleibt dem Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft zeitlich unbegrenzt erhalten, wenn er erstens gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist, zweitens gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie über ein Jahr lang im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat und dann unfreiwillig arbeitslos wird (Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn. 29 bis 46), oder drittens gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie eine Berufsausbildung begonnen hat.

45 Dagegen bleibt dem Unionsbürger, der weniger als ein Jahr lang im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nur für einen Zeitraum erhalten, dessen Dauer der Mitgliedstaat festlegen darf, wobei sie nicht weniger als sechs Monate betragen darf.

46 Der Aufnahmemitgliedstaat darf nämlich die Dauer der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft des Unionsbürgers, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat, begrenzen, doch darf er sie gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 nicht auf weniger als sechs Monate verkürzen, wenn dieser Bürger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen arbeitslos wird, bevor er ein Jahr Erwerbstätigkeit zurücklegen konnte.

47 Ausgehend von dem in dieser Bestimmung genannten ersten Fall ist dies der Fall, wenn die Erwerbstätigkeit des Arbeitnehmers nach Ablauf eines befristeten Vertrags mit einer Laufzeit von weniger als einem Jahr endet.

48 Ausgehend von dem in dieser Bestimmung genannten zweiten Fall muss dies auch in all den Situationen der Fall sein, in denen ein Erwerbstätiger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen gezwungen war, seine Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines Jahres zu beenden, unabhängig von der Art der ausgeübten Erwerbstätigkeit und der Art des hierzu geschlossenen Arbeitsvertrags, d. h. unabhängig davon, ob er eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat und ob er einen befristeten Vertrag mit einer Laufzeit von über einem Jahr, einen unbefristeten Vertrag oder jede andere Art von Vertrag geschlossen hat.

49 Diese Auslegung entspricht dem mit der Richtlinie 2004/38 in erster Linie verfolgten Ziel, das – wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt – darin besteht, das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu stärken, und dem speziell mit ihrem Art. 7 Abs. 3 verfolgten Ziel, das darin besteht, durch die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft das Aufenthaltsrecht der Personen zu sichern, die ihre Berufstätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit aufgegeben haben, der auf von ihrem Willen unabhängigen Umständen beruht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2015, Alimanovic, C-67/14, EU:C:2015:597, Rn. 60, vom 25. Februar 2016, García-Nieto u. a., C-299/14, EU:C:2016:114, Rn. 47, und vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn. 42).

50 Des Weiteren kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Auslegung die Verwirklichung eines der übrigen Ziele der Richtlinie 2004/38 beeinträchtigt, nämlich das Ziel, einen angemessenen Ausgleich zwischen der Gewährleistung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und der Garantie, dass den Systemen der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats keine unangemessenen Belastungen auferlegt würden, herzustellen.

51 Dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 ist zwar zu entnehmen, dass die Richtlinie zu vermeiden versucht, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.

52 Insoweit ist indessen festzustellen, dass die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 entsprechend den Ausführungen in den Rn. 24 bis 29 des vorliegenden Urteils voraussetzt, dass der betreffende Bürger zum einen vor seinem Zeitraum unfreiwilliger Arbeitslosigkeit tatsächlich die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne der Richtlinie besessen und sich zum anderen dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt hat. Zudem darf der betreffende Aufnahmemitgliedstaat die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft während eines Zeitraums unfreiwilliger Arbeitslosigkeit auf sechs Monate begrenzen.

53 Schließlich lässt sich – wie der Generalanwalt in den Nrn. 51 und 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – aufgrund der Prüfung der vorbereitenden Arbeiten zur Richtlinie 2004/38, insbesondere des geänderten Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM/ 2003/0199 endg.), und des gemeinsamen Standpunkts (EG) Nr. 6/2004 des Rates vom 5. Dezember 2003 (ABl. 2004, C 54 E, S. 12) bestätigen, dass der Unionsgesetzgeber die – gegebenenfalls auf sechs Monate begrenzte – Aufrechterhaltung  der Erwerbstätigeneigenschaft auf Personen erstrecken wollte, die unfreiwillig arbeitslos werden, nachdem sie anders als aufgrund eines befristeten Vertrags weniger als ein Jahr erwerbstätig waren.

54 Folglich ist Art. 7 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass einem Unionsbürger, der sich in einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet und aufgrund der Erwerbstätigkeit, die er zwei Wochen lang ausgeübt hat, bevor er unfreiwillig arbeitslos geworden ist, die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erworben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt hat.

55 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 20. Erwägungsgrund und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im AEU-Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie, insbesondere ihres Art. 7 Abs. 3 Buchst. c, wonach dem Bürger die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger erhalten bleibt, im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des AEU-Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießt.

56 Folglich gilt – wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – in dem Fall, dass das nationale Recht Personen, die eine unselbständige oder selbständige Tätigkeit nur für einen kurzen Zeitraum ausgeübt haben, vom Vorteil der Rechte auf Sozialleistungen ausschließt, dieser Ausschluss gleichermaßen für Erwerbstätige anderer Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben.

57 Demnach ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts allein zuständig ist, festzustellen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens in Anwendung des nationalen Rechts und im Einklang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung den im Rahmen des Ausgangsverfahrens geltend gemachten Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder Sozialversicherungsleistungen hat.

58 Nach alledem ist Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch die Tätigkeit, die er dort für einen Zeitraum von zwei Wochen anders als aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erworben hat, bevor er unfreiwillig arbeitslos wurde, die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens weitere sechs Monate im Rahmen dieser Vorschriften erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt. Das vorlegende Gericht hat zu klären, ob dieser Staatsangehörige in Anwendung des in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 gewährleisteten Grundsatzes der Gleichbehandlung infolgedessen wie ein Staatsangehöriger des Aufnahmemitgliedstaats Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder gegebenenfalls auf Sozialversicherungsleistungen hat. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch die Tätigkeit, die er dort für einen Zeitraum von zwei Wochen anders als aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erworben hat, bevor er unfreiwillig arbeitslos wurde, die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens weitere sechs Monate im Rahmen dieser Vorschriften erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt.

Das vorlegende Gericht hat zu klären, ob dieser Staatsangehörige in Anwendung des in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 gewährleisteten Grundsatzes der Gleichbehandlung infolgedessen wie ein Staatsangehöriger des Aufnahmemitgliedstaats Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder gegebenenfalls auf Sozialversicherungsleistungen hat.