EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 26.03.2019 - C-129/18 SM gg. Vereinigtes Königreich - asyl.net: M27336
https://www.asyl.net/rsdb/m27336
Leitsatz:

Freizügigkeitsrecht sonstige Familienangehörige:

Eine Kafala nach algerischem Recht - Übernahme der elterlichen Sorge bis zur Volljährigkeit (ähnlich der Vormundschaft) - begründet - anders als eine Adoption nach europäischem Recht - kein Abstammungsverhältnis im rechtlichen Sinne, muss jedoch beim Freizügigkeitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls entsprechend dem Recht auf Achtung des Familienlebens berücksichtigt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kafala, drittstaatsangehörige Familienmitglieder, Unionsbürger, familiäre Lebensgemeinschaft, Achtung des Familienlebens, Adoption, Sonstige Familienangehörige, freizügigkeitsberechtigt, SM, Vereinigtes Königreich
Normen: GR-Charta Art. 7, FreizügG/EU Art. 3,
Auszüge:

[...]

52 Hierzu ist anzumerken, dass der Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" gemeinhin auf das Bestehen eines Abstammungsverhältnisses in gerader Linie verweist, das die betreffende Person mit einer anderen Person verbindet. Fehlt jedes Abstammungsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem betreffenden Kind, kann dieses nicht im Sinne der Richtlinie 2004/38 als "Verwandter in gerader absteigender Linie" des Unionsbürgers eingestuft werden.

53 Zwar bezieht sich dieser Begriff in erster Linie auf das Bestehen eines biologischen Abstammungsverhältnisses; es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/38 nach ständiger Rechtsprechung die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern soll und dass sie insbesondere bezweckt, dieses Recht zu verstärken (Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C-456/12, EU:C:2014:135, Rn. 35, und vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 18). Angesichts dieser Ziele sind die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38, einschließlich ihres Art. 2 Nr. 2, weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Januar 2014, Reyes, C-423/12, EU:C:2014:16, Rn. 23, und vom 10. Juli 2014, Ogieriakhi, C-244/13, EU:C:2014:2068, Rn. 40).

54 Somit ist davon auszugehen, dass der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannte Begriff "Abstammungsverhältnis" weit aufzufassen ist, so dass er jedes Abstammungsverhältnis, unabhängig davon, ob es biologischer oder rechtlicher Art ist, erfasst. Folglich ist der Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin zu verstehen, dass er sowohl jedes leibliche als auch jedes adoptierte Kind eines Unionsbürgers erfasst, sofern nachgewiesen ist, dass die Adoption ein rechtliches Abstammungsverhältnis zwischen dem betreffenden Kind und dem betreffenden Unionsbürger begründet.

55 Dagegen vermag dieses Gebot einer weiten Auslegung eine Auslegung wie die, die Abschnitt 2.1.2 der Mitteilung KOM(2009) 313 endgültig zu entnehmen ist, wonach ein unter die gesetzliche Vormundschaft eines Unionsbürgers gestelltes Kind vom Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 umfasst sein soll, nicht zu rechtfertigen.

56 Da die Betreuung eines Kindes unter der Regelung der algerischen "Kafala" kein Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und seinem Vormund begründet, kann ein Kind wie SM, das nach dieser Regelung unter die gesetzliche Vormundschaft von Unionsbürgern gestellt ist, nicht als ein "Verwandter in gerader absteigender Linie" eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 angesehen werden.

57 Allerdings fällt, wie das vorlegende Gericht hervorgehoben hat, ein solches Kind unter den Begriff eines "[sonstigen] Familienangehörigen" nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38.

58 Nach dieser Vorschrift erleichtern die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt "jedes … Familienangehörigen …, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat".

59 Die in dieser Vorschrift verwendeten Formulierungen sind daher geeignet, die Situation eines Kindes zu erfassen, das von Unionsbürgern unter einer Regelung der gesetzlichen Vormundschaft wie der algerischen "Kafala" betreut wird und für das die betreffenden Unionsbürger den Unterhalt, die Erziehung und den Schutz gemäß einer auf der Grundlage des Rechts des Herkunftslands des Kindes eingegangenen Verpflichtung übernehmen.

60 Das Ziel von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 besteht, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, darin, "die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren", indem die Einreise und der Aufenthalt von Personen erleichtert werden, die nicht unter die Definition eines "Familienangehörigen" eines Unionsbürgers in Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie fallen, aber aufgrund besonderer tatsächlicher Umstände, beispielsweise einer finanziellen Abhängigkeit, der Zugehörigkeit zum Haushalt oder schwerwiegender gesundheitlicher Gründe, enge und stabile familiäre Beziehungen zu einem Unionsbürger haben (Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a, C-83/11, EU:C:2012:519, Rn. 32). [...]

62 Daher müssen die Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift vorsehen, dass Personen eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten können, die auf einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände, bei der verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind, beruht und die im Fall der Ablehnung begründet wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2012, Rahman u. a, C-83/11, EU:C:2012:519, Rn. 22 und 23, sowie vom 12. Juli 2018, Banger, C-89/17, EU:C:2018:570, Rn. 38 und 39). [...]

66 Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist jedoch zu entnehmen, dass die tatsächlichen Beziehungen, die ein der Regelung der "Kafala" unterstelltes Kind zu seinem Vormund unterhält, unter Berücksichtigung der gemeinsam verbrachten Zeit, der Qualität der Beziehungen und der Rolle, die der Erwachsene gegenüber dem Kind einnimmt, unter den Begriff des Familienlebens fallen können (vgl. in diesem Sinne EGMR, 16. Dezember 2014, Chbihi Loudoudi u.a./Belgien, CE:ECHR:2014: 1216JUD005226510, Nr. 78). Nach dieser Rechtsprechung schützt Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der Behörden und verpflichtet diese dort, wo eine familiären Bindung besteht, die Entwicklung dieser Bindung zu gestatten und einen rechtlichen Schutz zu gewähren, der die Eingliederung des Kindes in seine Familie ermöglicht (vgl. in diesem Sinne EGMR, 4. Oktober 2012, Harroudj/Frankreich, CE:ECHR:2012:1004JUD004363109, Nrn. 40 und 41, sowie EGMR, 16. Dezember 2014, Chbihi Loudoudi u.a./Belgien, CE:ECHR:2014: 1216JUD005226510, Nrn. 88 und 89). [...]

73 Nach alledem ist auf die erste Frage wie folgt zu antworten:

- Der Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" eines Unionsbürgers in Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass er ein Kind, das unter die dauerhafte gesetzliche Vormundschaft eines Unionsbürgers nach der algerischen Kafala gestellt wurde, nicht umfasst, da dadurch kein Abstammungsverhältnis zwischen ihnen begründet wird;

- die zuständigen nationalen Behörden haben jedoch die Einreise und den Aufenthalt eines solchen Kindes als eines sonstigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, gelesen im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta, zu erleichtern, indem sie eine ausgewogene und sachgerechte Würdigung aller aktuellen und relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher in Rede stehenden Interessen, insbesondere des Wohls des betreffenden Kindes, vornehmen. Für den Fall, dass nach Abschluss dieser Würdigung feststeht, dass das Kind und sein Vormund, der Unionsbürger ist, dazu berufen sind, ein tatsächliches Familienleben zu führen, und dass das Kind von seinem Vormund abhängig ist, gebietet das Grundrecht der Achtung des Familienlebens in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls grundsätzlich die Gewährung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt dieses Kindes, um es ihm zu ermöglichen, mit seinem Vormund in dessen Aufnahmemitgliedstaat zu leben. [...]