EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 13.03.2019 - C-635/17 E gg. Niederlande - asyl.net: M27392
https://www.asyl.net/rsdb/m27392
Leitsatz:

Beizubringende Unterlagen beim Antrag auf Familiennachzug:

1. Ein Antrag auf Familienzusammenführung - hier von der Tante eines Jungen, dessen Eltern verstorben sind und dessen Vormund sie ist - kann nicht allein aus formalen Gründen, wegen des Fehlens amtlicher Urkunden (Sterbeurkunden der leiblichen Eltern des Jungen), abgelehnt werden.

2. Es muss im Einzelfall geprüft werden, ob die antragstellende Person ihre Mitwirkungspflicht erfüllt hat und ob das behördliche Ermessen es erlaubt, die familiäre Verbindung auch auf andere Weise zu prüfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Vormund, Urkunden, Sterbeurkunde, Eritrea, Mitwirkungspflicht, amtliche Urkunden, Nachweis, Vormundschaft,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 5 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 11 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 17,
Auszüge:

[...]

47 Zu den Familienangehörigen des Zusammenführenden, deren Einreise und Aufenthalt der betroffene Mitgliedstaat zu gestatten hat, gehören nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 die "minderjährigen Kinde[r], einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt".

48 Zudem können nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 die Mitgliedstaaten weiteren, in Art. 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.

49 Hierzu hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass das niederländische Recht die Familienzusammenführung von Mündeln, zu denen der Zusammenführende tatsächliche familiäre Bindungen habe, gestatte und dass die niederländischen Behörden verpflichtet seien, die begehrte Familienzusammenführung zu gestatten, wenn das Bestehen einer tatsächlichen familiären Bindung zwischen dem Zusammenführenden und dem Mündel nachgewiesen wird. [...]

52 Zu der von den zuständigen niederländischen Behörden vorzunehmenden Prüfung ergibt sich sowohl aus Art. 5 Abs. 2 als auch aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86, dass diese Behörden u. a. bei der Prüfung, ob familiäre Bindungen bestehen, einen Spielraum für ihr Ermessen haben, ein Ermessen, das gemäß dem nationalen Recht auszuüben ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C-540/03, EU:C:2006:429, Rn. 59, und vom 6. Dezember 2012, O u. a., C-356/11 und C-357/11, EU:C:2012:776, Rn. 74). [...]

60 Hinsichtlich der Pflichten des Zusammenführenden und seines Familienangehörigen, für den der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, ist daran zu erinnern, dass nach Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 "Unterlagen beizufügen [sind], anhand derer die familiären Bindungen nachgewiesen werden". Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie stellt klar, dass diese Unterlagen "amtliche" sein müssen und dass in deren Ermangelung "der Mitgliedstaat andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen [prüft]". In Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie heißt es, dass "[z]um Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen die Mitgliedstaaten gegebenenfalls eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen [können]".

61 Wie jedoch der Generalanwalt in den Nrn. 57 und 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass der Zusammenführende und sein Familienangehöriger, für den der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, die Verpflichtung haben, mit den zuständigen nationalen Behörden zusammenzuarbeiten, insbesondere zur Feststellung ihrer Identität, dem Bestehen ihrer familiären Bindungen sowie der Gründe, die ihren Antrag rechtfertigen, was bedeutet, dass im Rahmen des Möglichen die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorgelegt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2017, K., C-18/16, EU:C:2017:680, Rn. 38).

62 Diese Verpflichtung zur Zusammenarbeit bedeutet mithin, dass der Zusammenführende oder der betreffende Familienangehörige, für den der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, alle Beweise beibringen, die für die Beurteilung der Wirklichkeit der von ihnen behaupteten familiären Bindungen sachdienlich sind, aber auch, dass sie auf die Fragen und Ersuchen antworten, die diesbezüglich an sie von den zuständigen nationalen Behörden gerichtet werden, dass sie sich diesen Behörden für Befragungen oder weitere Untersuchungen zur Verfügung halten und dass sie, wenn sie keine amtlichen Unterlagen zum Nachweis familiärer Bindungen vorlegen können, die Gründe für ihr Unvermögen, diese Unterlagen vorzulegen, erklären.

Zur Prüfung der vorgelegten Beweise und der abgegebenen Erklärungen

63 Was die Prüfung der Beweiskraft oder Plausibilität der in dieser Weise von dem Zusammenführenden oder seinem Familienangehörigen, für den der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, beigebrachten Beweismittel bzw. abgegebenen Erklärungen oder Erläuterungen durch die zuständigen nationalen Behörden angeht, so setzt die geforderte individualisierte Beurteilung, wie dies auch in Nr. 6.1.2 der Leitlinien ausgeführt wird, voraus, dass diese Behörden alle relevanten Faktoren, einschließlich Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Hintergrund und sozialer Status des Zusammenführenden oder des betreffenden Angehörigen seiner Familie sowie spezifische kulturelle Aspekte, berücksichtigen.

64 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 65, 66, 77, 79 und 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, folgt daraus, dass diese beigebrachten Beweise bzw. diese abgegebenen Erklärungen und Erläuterungen zum einen objektiv anhand der allgemeinen und besonderen relevanten, objektiven, zuverlässigen, genauen und aktualisierten Informationen über die Lage im Herkunftsland, einschließlich u.a. der Rechtslage und der Art und Weise der Anwendung dieses Rechts, der Funktionsweise der Verwaltungsdienste und etwaig bestehender Mängel, die bestimmte Orte oder bestimmte Personengruppen dieses Landes betreffen, geprüft werden müssen.

65 Zum anderen müssen die nationalen Behörden auch die Persönlichkeit des Zusammenführenden oder seines Familienangehörigen, für den der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, die konkrete Situation, in der sie sich befinden, und die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, berücksichtigen, so dass die Anforderungen an die Beweiskraft oder Plausibilität der Elemente, die von dem Zusammenführenden oder seinem Familienangehörigen insbesondere zum Nachweis des Unvermögens, amtliche Unterlagen über die familiären Bindungen vorzulegen, vorgetragen werden, verhältnismäßig sein und von der Art und dem Ausmaß der Schwierigkeiten abhängen müssen, denen sie ausgesetzt sind.

66 Denn nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 sollte der Lage von Flüchtlingen wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wie ferner in Nr. 6.1.2 der Leitlinien erläutert wird, ist es aufgrund der besonderen Situation der Flüchtlinge häufig nicht möglich oder gefährlich für die Flüchtlinge oder ihre Familienangehörigen, amtliche Unterlagen vorzulegen oder Kontakt zu diplomatischen oder konsularischen Behörden ihres Herkunftslands aufzunehmen.

67 Außerdem ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen, dass die zuständigen nationalen Behörden berechtigt sind, den Antrag auf Familienzusammenführung abzulehnen, wenn der Zusammenführende eklatant gegen die ihm obliegende Mitwirkungspflicht verstößt oder wenn anhand objektiver Nachweise, über die diese nationalen Behörden verfügen, ganz offensichtlich erkennbar ist, dass dieser Antrag betrügerischen Charakter hat.

68 Umgekehrt sind, wenn derartige Umstände nicht vorliegen, das Fehlen amtlicher Unterlagen zum Nachweis familiärer Bindungen sowie der etwaige Mangel an Plausibilität der insoweit abgegebenen Erklärungen als einfache Faktoren anzusehen, die bei der individualisierten Beurteilung aller relevanten Faktoren des Einzelfalls zu berücksichtigen sind und die zuständigen nationalen Behörden nicht von der in Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 enthaltenen Verpflichtung, andere Nachweise zu prüfen, befreien.

69 Wie nämlich auch in Nr. 6.1.2 der Leitlinien ausgeführt wird, besagt Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie eindeutig, ohne dass den Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum eingeräumt wird, dass die Ablehnung eines Antrags nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Unterlagen begründet werden darf, und verpflichtet in solchen Fällen die Mitgliedstaaten, andere Nachweise für das Bestehen familiärer Bindungen zu prüfen. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem das vorlegende Gericht über einen Antrag auf Familienzusammenführung eines subsidiär Schutzberechtigten zu entscheiden hat, nach Art. 267 AEUV zuständig, Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung auszulegen, wenn diese Vorschrift durch das nationale Recht für auf einen solchen Fall unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden ist.

2. Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem ein Antrag auf Familienzusammenführung von einer subsidiär schutzberechtigten Zusammenführenden für einen Minderjährigen gestellt wurde, dessen Tante sie ist und dessen Vormund sie zu sein behauptet und der als Flüchtling ohne familiäre Anbindung in einem Drittstaat lebt, dem entgegensteht, dass dieser Antrag allein deshalb abgelehnt wird, weil die Zusammenführende nicht die amtlichen Unterlagen zum Nachweis des Versterbens der biologischen Eltern des Minderjährigen vorgelegt und daher nicht die Tatsächlichkeit ihrer familiären Bindungen zu ihm belegt hat, und die Erklärung, die die Zusammenführende zum Nachweis ihres Unvermögens, diese Unterlagen beizubringen, vorgetragen hat, von den zuständigen Behörden allein aufgrund der allgemeinen zur Verfügung stehenden Informationen über die Lage im Herkunftsland für nicht plausibel befunden wurde, ohne die konkrete Situation der Zusammenführenden und des Minderjährigen sowie die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sie ihrem Vortrag zufolge vor und nach der Flucht aus ihrem Herkunftsland konfrontiert waren, zu berücksichtigen. [...]