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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.03.2019 - C-221/17 M. G. Tjebbes u.a. gg. Niederlande - asyl.net: M27401
https://www.asyl.net/rsdb/m27401
Leitsatz:

Vereinbarkeit nationaler Gesetze eines Mitgliedstaates über den Verlust der Staatsangehörigkeit mit dem Unionsrecht: 

Ein Gesetz wie in den Niederlanden, das den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit bei doppelter Staatsangehörigkeit und einer Abwesenheit vom Gebiet der Europäischen Union von mehr als zehn Jahren vorsieht, ist mit Unionsrecht vereinbar, zumindest wenn die Möglichkeit einer Wiederherstellung der niederländischen Staatsangehörigkeit/Unionsbürgerschaft besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Staatsangehörigkeit, Verlust der Staatsangehörigkeit, Entziehung der Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft, Unionsrecht, Ermessen, doppelte Staatsangehörigkeit, M. G. Tjebbes, Niederlande
Normen: AEUV Art. 20, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[...]

39 Unter diesen Umständen verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass in Situationen wie den von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN und Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN erfassten ein Mitgliedstaat aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betreffende Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.

40 Es ist jedoch Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56).

41 Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten.

42 Hieraus folgt, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in denen der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes erfolgt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein müssen, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. [...]

45 Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei dieser Artikel in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C-133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).

46 Was die Umstände in Bezug auf die individuelle Situation der betroffenen Person angeht, die bei der von den zuständigen nationalen Behörden und den nationalen Gerichten im vorliegenden Fall vorzunehmenden Beurteilung relevant sein können, ist u.a. die Tatsache zu erwähnen, dass die betroffene Person infolge des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausgesetzt wäre, gegebenenfalls verbunden mit besonderen Schwierigkeiten, sich weiter in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort tatsächliche und regelmäßige Bindungen mit Mitgliedern ihrer Familie aufrechtzuerhalten, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben oder die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dort eine solche Tätigkeit auszuüben. Ebenfalls relevant wäre erstens der Umstand, dass ein Verzicht der betroffenen Person auf die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht möglich gewesen wäre und sie deshalb in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN fällt, und zweitens die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Sicherheit oder ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, der die betroffene Person deshalb ausgesetzt wäre, weil es ihr unmöglich wäre, im Hoheitsgebiet des Drittstaats, in dem diese Person wohnt, konsularischen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. c AEUV in Anspruch zu nehmen.

47 Was minderjährige Personen betrifft, müssen die zuständigen Behörden oder Gerichte außerdem im Rahmen ihrer individuellen Prüfung dem etwaigen Vorliegen von Umständen Rechnung tragen, aus denen sich ergibt, dass der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit des betroffenen Minderjährigen, die der innerstaatliche Gesetzgeber an den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit eines seiner Elternteile geknüpft hat, um die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie zu wahren, wegen der Folgen eines solchen Verlusts für diesen Minderjährigen aus unionsrechtlicher Sicht nicht dem in Art. 24 der Charta anerkannten Kindeswohl entspricht. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 20 AEUV ist im Licht der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. [...]